Abraham und die Labrador-Inuit in Europa

reblogged vom 20.04. 2013

Wir schreiben das Jahr 1880. Am frühen Morgen des 16.Oktober erreicht eine ungewöhnliche Reisegesellschaft den Hamburger Bahnhof von Berlin. Es ist eine Gruppe von „Eskimos“, Inuit aus Labrador. Sie reisen in Begleitung von Angestellten des Tierhändlers Carl Hagenbeck auf einer Tournee, einer sogenannten Völkerschau, durch verschiedene Städte Europas: Hamburg, Berlin, Prag, Frankfurt, Darmstadt, Krefeld und Paris sind die Stationen. Die Gruppe besteht aus zwei Familien: Abraham mit seiner Frau Ulrike und den beiden Töchtern Sara und Maria sowie Tobias, ihrem Verwandten aus Hebron, einer Missionsstation der Herrnhuter Brüdergemeine; und Terrianiak (andere Quellen schreiben Tigganiak), der mit Frau Paingo und Tochter Nochasak weiter nördlich von Hebron im Nachvak Fjord lebte.

Berlin, Hamburger Bahnhof, um 1850
Berlin, Hamburger Bahnhof, um 1850

Die Reise der Inuit ist erstaunlich gut dokumentiert, sowohl in den Veröffentlichungen der Brüdergemeine und in der Tagespresse, aber auch im Tagebuch von Adrian Jacobsen, dem Beauftragten von Hagenbeck, der die Inuit in Labrador überzeugt hatte, ihm auf einer Reise nach Europa zu folgen, und in einer Broschüre von Hagenbeck. Außerdem gibt es sogar noch die Abschrift einer Übersetzung von tagebuchartigen Notizen des Inuit Abrahams. Diese Abschrift, die seinerzeit Bestandteil verschiedener Veröffentlichungen der Brüdergemeine in deutsch und auch in französisch war, wurde erst 100 Jahre nach der Reise der Inuit durch den kanadischen Wissenschaftler J. Garth Taylor wieder aufgefunden und kurz danach ins Englische übersetzt. Leider aber gelang es bis heute nicht, originale handschriftliche Zeugnisse des schriftkundigen Abrahams, der auf der Reise auch einige Briefe geschrieben hatte, in den Archiven in Kanada, Deutschland, Frankreich, England und den USA zu finden.

Abraham und Familie
Abraham und Familie in einer zeitgenössischen Darstellung, Sammlung M+W Opel

Abraham wurde am 29.1.1845 in Hebron geboren und am 25. Februar dort durch die Missionare getauft. Seine Eltern, Paulus und Elisabeth, bekamen in den nächsten Jahren noch weitere Kinder. Über die Jugend Abrahams ist fast nichts bekannt, 1868 heiratete er eine junge Frau aus Nain, Martha, die dort mit Mutter und Bruder lebte. Da die Inuit zu dieser Zeit noch keine Nachnamen hatten, wurde zur Vermeidung von Verwechslungen bei mehreren Inuit gleichen Namens der Name der Frau hinzugefügt, so dass in den Unterlagen der Herrnhuter Missionare Abraham mit der Ergänzung „Martha“ auftaucht. 1876 muss er eine zweite Ehe eingegangen sein, denn er wurde von da an in den Dokumenten mit dem Zusatz „Ulrike“ aufgeführt.

Hebron in Labrador
Hebron in Labrador, die Heimat von Abrahams Familie, im Jahre 2009

In Europa angelangt, wurde Abraham wohl aufgefordert, einen dort üblichen Familiennamen anzugeben, und er wählte mit „Paulus“ den Namen seines Vaters. Ähnlich verfuhr seine Frau Ulrike, die den Familiennamen Henoch (1) nach ihrem Vater wählte; die Nachnamen der Kinder wurden mit Paulus angegeben. Der in der Literatur häufig verwendete Name „Abraham Ulrikab“ ist wohl eine Fehldeutung der Unterschrift Abrahams, die in der Abschrift der Übersetzung durch den Missionar Kretschmer erscheint. „Abraham Ulrikab“ wäre wohl besser als „Abraham, Mann von Ulrike“ zu übersetzen – so wie Abraham auch seine Briefe an den Missionar Elsner unterschrieben hatte, gemäß dessen Übersetzung aus dem Inuktitut.

Terrianiaks Familie
Terrianiaks Familie, zitgenössische Illustration

Es ist verbürgt, dass es Aufzeichnungen Abrahams über die Reise gab. Bis diese originalen Tagebuchnotizen eines Tages doch noch gefunden werden, muss man Umfang und Exaktheit der vorliegenden überlieferten Übersetzungen kritisch bewerten, denn es fehlt die Erwähnung wichtiger Ereignisse (wie die zahlreichen Fotoaufnahmen von den Inuit in Hamburg, die Vermessung der Inuit durch den Berliner Wissenschaftler Virchow sowie andere Begebenheiten, von denen Jacobsen und Elsner berichteten; sie werden in der Übersetzung von Abrahams Text aber entweder verkürzt oder gar nicht erwähnt), und zudem weichen die verschiedenen Veröffentlichungen der übersetzten Aufzeichnungen Abrahams auch voneinander ab.

Nachvak Fjord
Nachvak Fjord in Labrador – von hier kam Terrianiaks Familie

Die Reise der Inuit durch Europa endete leider tragisch – innerhalb weniger Wochen verstarben sie einer nach dem anderen an Pocken. Die Ansteckung erfolgte wohl in Prag, wo damals gerade eine Pockenepidemie herrschte. Ob durch eine Impfung gegen Pocken, die in Labrador nicht vorgenommen werden konnte und bei der Ankunft in Hamburg versäumt worden war, der Tod der Inuit tatsächlich verhindert worden wäre, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, denn Impfungen waren damals noch nicht sicher, und bis weit in das 20. Jahrhundert starben sowohl in Europa als auch in Labrador immer wieder viele Menschen an Epidemien, die durch Reisende übertragen wurden.

Friedhof in Krefeld
Friedhof in Krefeld mit dem vermuteten Ort der Gräber von 1880, heute eingeebnet

Unsere Suche nach den Gräbern der verstorbenen Inuit war bisher nicht erfolgreich, die Auswirkungen zweier Weltkriege und die lange Zeit seit dem Tod geben kaum Hoffnung, noch Orte des Gedenkens zu finden. Über unsere Suche auf dem Friedhof in Darmstadt hatten wir bereits gebloggt. Von den in Deutschland Verstorbenen konnte bisher nur ein Schicksal teilweise aufgeklärt werden. Der Leichnam der dreijährigen Sara, die in Krefeld starb, wurde auf Veranlassung Rudolf von Virchows exhumiert und von ihm „wissenschaftlich“ untersucht und in der Fachliteratur beschrieben.

Rudolf Virchow
Rudolf Virchow, Foto: public domain (Wikimedia)

Die Haltung des renommierten Gelehrten zu seinem Forschungsgegenstand ist nicht nur aus heutiger Sicht erschreckend und abstoßend, sie wiederspiegelt die Arroganz des „gebildeten“ Europäers gegenüber den Angehörigen anderer Völker:
„Zuweilen ist es möglich, ganze, frisch abgeschnittene Köpfe zu erhalten. In diesem Falle wird zugleich Haut und Haar der Leiche für spätere Untersuchung erhalten, auch ein grosser Theil physiognomischer Eigenthümlichkeiten, so namentlich die Form der Nase und des Mundes, das Auge und Ohr, bewahrt. Wo es irgend geschehen kann, da ist es daher sehr zu empfehlen, solche Gelegenheiten nicht zu versäumen.“
Zitiert nach Virchow: Anthropologie und prähistorische Forschungen: Anleitung zur wissenschaftlichen Beobachtung auf Reisen, Herausgeber: Georg von Neumayer, Band II, Verlag Robert Oppenheim, Berlin 1888

Dass solcherart Arroganz, verhaltener oder offener Rassismus auch das folgende Jahrhundert überdauert haben, zeigt nicht nur „Kafkas Affe und Hagenbecks Völkerschau“ – leider sind sie bis heute anzutreffen.

reblogged vom 20. April 2013 von Wolfgang Opel

(1) Die Schreibweise „Henoch“ entspricht den Dokumenten der Herrnhuter Brüdergemeine und dürfte der Taufname von Ulrikes Vater sein. Die manchmal verwendete Schreibweise „Henocq“ stammt aus französischen Dokumenten (bezüglich des Todes von Ulrike in Frankreich) und beruht dort wahrscheinlich auf einem Schreibfehler.

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