Die Einsamkeit des Kapitäns

Gedanken zum Jahrestag der Entdeckung der ersten Nordwestpassage (26.10.1850)

reblogged/bearbeitet vom Januar 2018

Als Robert McClure im Januar 1807 in Wexford (Irland) geboren wurde, war er bereits Halbwaise; daher trägt er auch den Namen von Le Mesurier, dem hochgestellten Freund des Vaters, der den Knaben adoptierte und einige Zeit für seine Erziehung und Ausbildung sorgte. Bei der Royal Navy musste McClure sich allerdings Aufstieg und Beförderungen hart und langwierig erkämpfen, ohne jede Protektion. Es dauerte bis 1850, dass er erstmals als Kapitän ein Schiff befehligen konnte: HMS Investigator, die zusammen mit HMS Enterprise unter Kapitän Collinson zur Suche nach der verschollenen Franklin-Expedition aufbrach.

Plymouth Harbour im 19. Jh – unbekannter Meister
Plymouth Harbour im 19. Jh – unbekannter Meister. (c) Royal Albert Memorial Museum; Supplied by The Public Catalogue Foundation

Johann August Miertsching, der als Dolmetscher für Inuktitut an dieser Reise teilnahm, berichtet vom 18. Januar 1850, als er vor Beginn der Reise in Plymouth Sound bei den Schiffen eintraf: „Kapitän Collinson und sein Gast Comander McClure von dem Investigator hatten soeben ihr Mittagsmahl beendigt, und bewillkommten mich aufs freundlichste„. Die Kapitäne speisten also miteinander; war ihre Trennung von den Offizieren bei den Mahlzeiten, ebenso wie die Trennung letzterer von der „gewöhnlichen“ Mannschaft, eine Maßnahme, um die strikte Rangordung an Bord und die Disziplin zu wahren? „Die Officiere essen 2 Uhr, der Kapitain 4 Uhr Mittag„, schreibt Miertsching am ersten Reisetag. In welcher Situation befindet sich der wichtigste Entscheidungsträger an Bord der Investigator? Die Offiziere trafen sich im ward room oder gun room, leisteten dort einander Gesellschaft, lachten, scherzten, nahmen ihre Mahlzeiten gemeinsam ein. Der Kapitän dagegen, der eine sehr große Kabine hatte – in der sich natürlich auch Kartentisch und nautische Instrumente befanden – tafelte dort in der Regel mutterseelenallein, und nur selten, bei besonderen Anlässen wie etwa am Silvestertag 1851, lud er die Offiziere dazu ein.

Beschäftigungen der Offiziere – Gemälde von Augustus Earle, National Maritime Museum, Greenwich, London
Übliche Beschäftigungen der Offiziere in einer britischen Fregatte – Gemälde von Augustus Earle, National Maritime Museum, Greenwich, London

Wie „kollegial“ durfte und konnte damals ein Kapitän mit seinen Untergebenen umgehen? Man weiß, dass Kapitän Collinson mit den Offizieren von HMS Enterprise hart aneinander geriet, sie schließlich sämtlich unter Arrest stellte. Auch Admiral Belcher, dessen Kompetenz wohl im Gegensatz zu seiner Macht stand, hatte bei der Durchsetzung seiner Autorität Probleme. War denn etwa die eigene Position in Gefahr, wenn man sich mit anderen beriet und auf Kritik einging? Mir ist nicht bekannt, dass Kapitän Kellet, Kommandant von HMS Resolute, solchen Konflikten gegenüberstand. Doch welche Gratwanderung mag es sein, wenn das eigene Selbstvertrauen vielleicht nicht der hohen Verantwortung entspricht, wenn man zudem die jungen Offiziere für zu unerfahren hält, wenn ein Teil der Mannschaft ein disziplinloser Haufen ist, und man sein Gesicht, seine Autorität um jeden Preis wahren muss, bei Strafe von Meuterei?

HMS Enterprise unter Befehl von Kapitän Collinson
HMS Enterprise unter Befehl von Kapitän Collinson

Miertsching, der Außenseiter an Bord von HMS Investigator, ist eine „Landratte“; er ist kein Offizier, auch wenn er auf Anweisung des Kapitäns als solcher zu behandeln ist, und er versteht anfangs kaum Englisch. In den ersten Wochen und Monaten an Bord erlebt er ständige „Zänckerei zwischen dem Kapitän und den Officieren“ und hält sich nach Möglichkeit davon fern.
Doch wiederholt wird Miertsching vom Kapitän zu Tisch geladen. Sein Tagebucheintrag vom 8. Februar 1850 lautet: „Von Heute an soll ich jeden Mittag 12 Uhr zum Kapitain kommen, und mit ihm ein Glas Wein trinken (Luncheon). Meine Bücher und Schreibereien, die ganz naß und feucht sind, so wie meine Guittare soll ich von nun an in des Kapitains Kajüte haben.“ Zudem berichtet er in Abständen davon, dass er mit dem Kapitän zu Abend speiste. Warum diese Sonderbehandlung? Sucht der einsame McClure die Gegenwart eines anderen Einsamen? Sucht er gar Trost?

Wexford in Irland, der Geburtsort McClures – Foto: Richard Webb, Wikipedia
Wexford in Irland, der Geburtsort McClures – Foto: Richard Webb, Wikipedia

Miertsching erlebt McClure in der Auseinandersetzung mit der Mannschaft als ungeduldig und jähzornig, zum Beispiel als bei einem Sturm die Takelage Schaden nahm, während der diensthabende Offizier unter Deck war: „Der Kapitain war wüthend böse; förmlicher Unmensch„, schreibt er am 15. Mai 1850. Drei Tage später aber heisst es: „Der Kapitain war heute sehr freundlich, und ich mußte den Tag über in seiner Kabine sein. Unsere Unterhaltungen waren lang und interessant; es schien ihm Leid zu thun dass er sich dieser Tage so vergessen hatte„. Nach einer Pause in Hawaii und der Abfahrt in die Bering Strait ist Miertsching erleichtert: „Das unangenehme Verhältniß zwischen dem Kapitain und Officieren hatte sich in den wenigen Tagen in ein sehr angenehm und freundliches verwandelt… Der Kapitain war bei uns zu Tische…„.

Sir Robert Le Mesurier McClure – © National Portrait Gallery, London
Sir Robert Le Mesurier McClure – © National Portrait Gallery, London

Doch mit wem bespricht der Kapitän seine Entscheidungen? Aus Miertschings Aufzeichnungen geht nicht hervor, dass er sich mit seinen Offizieren beraten hätte. Hingegen sucht er in schwierigen Situationen oft die Gegenwart des als Übersetzers eingestellten Herrnhuter Bruders. Ist da endlich einer, mit dem er mal reden, sich aussprechen kann, ohne in Gefahr zu laufen, dass dies seiner Autorität Abbruch tut? –
Man sollte aber nicht glauben, dass der so „bevorzugte“ Miertsching nun immer mit dem Kapitän einer Meinung war. So beklagt er im Tagebuch am 30.11.1850: „Ich habe rheumatische Schmerzen in allen Gliedern und fortwährend ist mir kalt; zum Auswärmen oder Kleidertrocknen ist keine Gelegenheit, weil die Schiffsöfen nicht geheizt werden; denn der Kapitain glaubt, Wärme ist dem Menschen schädlich, sagt: die Eskimo haben keine Öfen und keine Feuer, sind dabei die gesündesten Menschen. Der Kapitain … feuert in seinem Stubenofen täglich 32 Pfund Steinkohlen„. Miertsching erwähnt auch seine Meinungsverschiedenheiten mit dem Kapitän, wenn dieser mit ihm etwa über die Bestrafung von Delinquenten und vor allem über religiöse Fragen diskutierte.

Eis, wohin das Auge blickt
Eis, wohin das Auge blickt

Nach der ungeplanten Trennung von HMS Enterprise war die 65-köpige McClure-Expedition bereits im Herbst 1850 auf das damals fehlende Glied der langgesuchten Nordwestpassage zwischen Atlantik und Pazifik gestoßen; doch die Männer mussten noch harte und entbehrungsreiche Jahre in einer der entlegensten Gegenden der Arktis zubringen, bevor sie gerettet wurden. Ihr Schiff, HMS Investigator, musste schließlich im Eis der Arktis zurückgelassen werden, wo es unterging und von Unterwasserarchäologen von Parks Canada erst im Jahr 2010 gefunden wurde.

Wrack der HMS Investigator auf dem Grund der Mercy Bay – Photo: Courtesy of Parks Canada
Wrack der HMS Investigator auf dem Grund der Mercy Bay – Photo: Courtesy of Parks Canada

Die Zeit der Entbehrungen und Hoffnungslosigkeit der in der Arktis gefangenen Männer wirkt sich auf ihr psychisches Befinden aus – auch auf ihren Kapitän. Miertsching, der McClure oft zur Jagd und auf Spaziergängen begleitete, bemerkt in seinem Tagebuch: „Es thut mir Leid um unsern viel geprüften werthen Kapitain; er muß sich zwingen guten Muth zu zeigen.“ Im dritten Winter im vom Eis eingeschlossenen Schiff, in der Zeit von drastischen Hunger und um sich greifenden Skorbut, mit wenig Hoffnung auf Rettung, bringt Miertsching Verständnis für die schwierige Situation des Kapitäns auf: „Ach wie mag es dem von Sorgen und Kummer niederdrückenden Kapitain zu Muthe sein, wenn er seine einst so starken, rüstigen und gesunden, und nun kaum sich aufrecht haltenden dahinwelkenden Matrosen ansieht!

HMS Investigator im Polareis – Buchillustration
HMS Investigator im Polareis – Buchillustration

In dieser verzweifelten Lage mussten überaus schwierige Entscheidungen getroffen werden, die nichts mehr mit Segeltechnik und Navigation zu tun hatten: Wie klein darf und wie groß muss die Ration für den Einzelnen sein, damit alle, oder möglichst viele, überleben können? Harrt man an Bord des eingefrorenen Schiffes aus und hofft auf einen warmen Sommer und verhungert gemeinsam – oder muss das Schiff verlassen werden? Zumindest von Teilen der Mannschaft? Wen sendet man fort, wohin soll zu Fuß übers Eis oder Land gewandert werden, wo ist die Aussicht auf Rettung am größsten?

Leutnant Pim taucht auf, und die Mannschaft ist gerettet – Buchillustration
Leutnant Pim taucht auf, und die Mannschaft ist gerettet – Buchillustration

Wohl keiner von uns wüsste, was in einer so verzweifelten Lage zu tun wäre, und so ist es zwar heute einfach, aber nicht ganz gerecht, McClure für seine einsamen Entscheidungen zu verurteilen, auch wenn das Aufteilen der Mannschaft und Aussenden der kranken Männer zu Fuß mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den Tod eines großen Teils bewirkt hätte. Vielleicht aber wäre es auch eine – wenn auch geringe – Möglichkeit des Überlebens, zumindest für Einige, gewesen? Und welche andere Chance hätte es denn noch gegeben, wenn nicht unvermutet Rettung aufgetaucht wäre? – Vier Männer der McClure-Expedition fanden ihren letzten Ruheplatz in der Arktis – nur vier; es hätten leicht auch viel mehr sein können, bedenkt man das Schicksal der Franklin-Expedition.

Das Grab von Thomas Morgan (HMS Investigator) auf Beechey Island, Nunavut
Das Grab von Thomas Morgan (HMS Investigator) auf Beechey Island, Nunavut

Die Nordwestpassage wurde nicht von einer einzelnen Person entdeckt. Dutzende hatten ihren Anteil an der Kartierung der unbekannten Küsten und Meeresstraßen, und die „Passage“ ergab sich erst aus dem Zusammenfügen dieser Landkarten und Erkenntnisse. McClure und seine Männer aber waren zumindest die ersten, die die gesamte Nordwestpassage durchquerten, wenn auch auf mehreren Schiffen und teilweise zu Fuß. Bei aller berechtigten und vielleicht auch unberechtigten Kritik an der Person McClures ist dies eine der bemerkenswertesten Leistungen bei der Erforschung der Arktis.

Grabinschrift für McClure
Grabinschrift für McClure:
„In Memory of Vice Admiral Sir Robert John le M. McClure C.B. Born 28 January 1807 died 17 October 1873. As Captain of HMS ‚Investigator‘ AD 1850-54 he discovered and accomplished the Northwest Passage“ – „Thus we launch into this formidable frozen sea“ – „SPES MEA IN DEO“

(Anmerkung: Alle Zitate stammen aus Miertschings Reisetagebuch)

Nachtrag vom März 2022: Wir freuen uns sehr, dass unser Buch „Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – ein Lebensbild“ im Sommer 2022 im Berliner Lukas Verlag erscheinen wird.

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