Der Fischer und die Raben

Im Thomas Radall Park

reblogged vom Dezember 2015

Bevor die Mi’kmaq in Nova Scotia siedelten, waren die Raben da, die viele und lange Geschichten erzählen. Jeden Tag höre ich ihre Stimmen, von früh bis abends. Eine Geschichte handelt von späteren Siedlern, die aus Europa kamen und ihre Wünsche und Hoffnungen auf ein anderes Leben mit dem neuen Land verbanden; die das alte Europa mit seiner Enge hinter sich ließen.

abgestorbene Fichten an der Küste – Foto: © Ullrich Wannhoff
Die abgestorbenen Fichten an der Küste schützen den jungen Nachwuchs dahinter – Foto: © Ullrich Wannhoff

So kam 1786 die Familie MacDonald in der Bucht „Port Joli“ an. Die britische Armee setzte sie dort an Land, wo die Küsten mit dunklen Nadelwäldern umsäumt sind. Hier stehen die alten abgestorbenen Fichten vorne am Strand, die jüngeren geschützt dahinter.
Die McDonalds ließen sich hier nieder und begründeten ihre neue Existenz. Ob sie in der alten Heimat Fischer waren oder das jetzt erst wurden, bleibt mir verborgen. Die Raben antworten nicht, sondern erzählen irgend etwas, wie in einer endlosen Bandschleife.

Alter Anker – Foto: © Ullrich Wannhoff
Alter Anker, etwa neunzig Jahre alt – Foto: © Ullrich Wannhoff

MacDonalds Niederlassung lag am seitlichen Ausgang der Bucht in Richtung zum offenen Atlantik. Hier ziehen Fischschwärme vorbei, aber auch die Stürme verbreiten ihr Unheil. Die Behausungen standen hundert Meter landeinwärts in den geschützten Wäldern. Schuppen, Bootshaus und der Garten lagen am Ufer, wo heute noch ein alter Apfelbaum steht.

Apfelbaum – Foto: © Ullrich Wannhoff
Immer noch trägt ein alter Stamm rote, genießbare Äpfel – Foto: © Ullrich Wannhoff

Ein dicker Baum, mit einem abgestorbenen hellen Stamm ohne Rinde und einem noch treibendem Teil, an den viele kleine rotbäckige Äpfel hängen. Ihr hartes Fruchtfleisch schmeckt leicht säuerlich, aber mit süßen Anteilen, also durchaus essbar. Auf diesen Fleck scheint die Sonne besonders lange, und die Fichten schützten die Äpfel vor den Stürmen.

Apfelbaum abgestorbener Stamm – Foto: © Ullrich Wannhoff
Links der abgestorbene Stamm. Der mittlere Stamm trägt heute noch volle Früchte – Foto: © Ullrich Wannhoff

Den hier brütenden Flötenregenpfeifern schenkte die Fischerfamilie damals wohl nicht zu viel Beachtung. Sicherlich wurden die Vögel wahrgenommen, ebenso wie die Raben, die hier auch heute fliegen. Ob die MacDonalds in den langen Winternächten auch Gespräche über die Vögel führten? Ob sie ihren Kindern vielleicht gar Märchen über die Vögel erzählten?

Piping Plover – Foto: © Ullrich Wannhoff
In der Sandy Bay und an anderen Stränden Nova Scotias befinden sich die Brutgebiete der Flötenregenpfeifer – Foto: © Ullrich Wannhoff

Das Alltagsleben wurde vom Meer bestimmt: wann ziehen die Heringe? wo ist der Kabeljau? Können wir Hummer fangen? Dies bestimmte wichtige und sehr arbeitsreiche Perioden des Jahres. Mit dem Fang ließen sich in größeren Hafenorten Mehl, Lebensmittel, Gerätschaften, Eisen und andere wichtige Dinge eintauschen.

Grabstein der Familie Mac Donald – Foto: © Ullrich Wannhoff
Hier liegen Mitglieder der Familie Mac Donald begraben, die 1786 aus Schottland hier eintraf – Foto: © Ullrich Wannhoff

Freizeit, wie wir es heute kennen, hat es damals wohl kaum gegeben – und wenn, dann waren das Pausen, wo man vielleicht andächtig rauchend in die weite Ferne schaute, sich an das Land von gestern erinnernd – Schottland. Man saß in der engen verrauchten warmen dunklen Stube. Wenig Licht fiel durch die kleinen Scheiben. Die Gedanken gingen schon an die nächste arbeitsreiche Saison. Man lief den langen Weg in die Kirche und hegte die Hoffnung, Gott wird es richten…?

Karte von Port Joli Harbor um 1930
Karte von Port Joli Harbor um 1930

Heute wirkt so etwas fast romantisch, aber damals war für Romantik wenig Platz. Die harte Zeit, das salzige Meer nagte buchstäblich an Haut und Knochen. Wir kennen die realistischen Bilder von deutschen Malern, wie Wilhelm Leibl (1844-1900) oder den frühen Max Liebermann (1847-1935), die das Leben des 19. und frühen 20. Jahrhundert auf dem Lande zeigt.

Fischerboot – Foto: © Ullrich Wannhoff
Die Form der Fischerboote aus dem frühen 20. Jahrhundert hat sich bis heute erhalten: Boot in Port Medway – Foto: © Ullrich Wannhoff

Mit dem Einzug moderner Technik wurde die Zeit der Fischerei „unter Segeln“ abgelöst. Seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ergänzten Dieselmotoren und bessere nautische Instrumente die Ausstattung der Hummern-Boote. Das Leben wurde aber nicht unbedingt einfacher – nur anders. Der Markt hat sich verschoben. Die industriemäßig betriebene Fischerei erschwert das harte Leben der kleinen Fischer bis heute.

Silbermöwe – Foto: © Ullrich Wannhoff
Silbermöwe kurz vor dem Auffliegen – Foto: © Ullrich Wannhoff

Nur wenige junge Menschen betreiben heute noch Küstenfischerei, deren Vergangenheit nicht romantisch und deren Zukunft unsicher ist. Die Raben könnten viele neue Geschichten darüber erzählen … aber ich möchte jetzt in der Sandy Bay baden und den Silbermöwen nachschauen. Ich sehe die zuckenden Hälse der Ohrenscharben (sie gehören zur Familie der Kormorane), sie schauen auf mich, um gleich darauf weg zu fliegen.

Double-crested cormorant – Foto: © Ullrich Wannhoff
Ohrenscharbe kurz vor dem Abfliegen – Foto: © Ullrich Wannhoff

Anmerkung: Ich war zehn Tage im Thomas Radall Provincial Park in Nova Scotia. Thomas Radall (1903-1994) war Schriftsteller und Historiker. Ein großer Teil seines Nachlasses liegt in Museen und Archiven in Nova Scotia.

Hier sind meine anderen Beiträge zu Nova Scotia: „The Hare and Hounds“ und „Frühherbst an der Ostküste Kanadas„.

Übrigens: Die Sandy Bay ist eines der Themen in Wolfgang Opels Buch „Nova Scotia: 50 Highlights abseits der ausgetretenen Pfade„.

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