„Heroldsruf in eine glückliche Zeit“

Aus Anlass des 150. Geburtstag des Tibetforschers August Hermann Francke erinnern wir an seine Zeit als ungewöhnlicher Pädagoge in Kleinwelka

Im Alter von nur 7 Jahren wurde Hans Windekilde Jannasch, ein Enkel von Johann August Miertsching, von seinen Eltern aus Labrador nach Deutschland geschickt, wie es damals für Kinder der Herrnhuter Missionare üblich war, um als „Waisenkind auf Zeit“ die Schule zu besuchen. Zuvor hatte er in Nain bereits ein Vierteljahr lang gemeinsam mit Inuit-Kindern Lesen und Schreiben gelernt. Nach wochenlanger Schiffsreise über den Atlantik kam er schließlich im Herbst 1891 in Kleinwelka bei Bautzen an, um bald in die hiesige Schulanstalt der Herrnhuter Brüdergemeine einzutreten. Hier litt er sehr unter der lieblosen und straffen Anstaltserziehung. Jahrzehnte später schrieb er: ganz dem Namen Kleinwelka entsprechend, „welkte“ er dort vor sich hin; er schilderte „Tiefpunkte meines damaligen Daseins“, das – ohne Schutz und Wärme der Familie – voller Schwermut und Qual gewesen sein muss.

Knabenanstalt Kleinwelka
Knabenanstalt in Kleinwelka; das Gebäude in dieser Gestalt wurde 1898 fertiggestellt

Im nächsten Schuljahr aber änderte sich alles, denn da trat ein neuer Lehrer auf den Plan: August Hermann Francke. Das fröhliche „Guten Morgen“ des jungen Mannes mit „wirrem dunklen Haarschopf“ und „lachenden blauen Augen“ war für den kleinen Hans einen „Heroldsruf in eine glückliche Zeit“. Das war ein Lehrer, der mit den Kindern sprach wie mit Erwachsenen; der ihnen zuhörte; der sie fragte: nach ihren abwesenden Eltern und nach ihnen selbst; der sie in ihrem Heimweh tröstete. Und er erzählte ihnen auf lebendige und anschauliche Art Geschichten, Heldensagen und Märchen, oder er erfand welche – und verknüpfte das mit dem zu Lernenden, ob in Deutsch, Geschichte, Erd- und Naturkunde oder beim Rechnen.

Hans Windekilde Jannsch
Hans Windekilde Jannasch als Schüler

Francke musste gar nicht kommandieren, wie es die anderen Lehrer taten. Die Knaben waren begeistert und hochmotiviert, wenn er mit ihnen in die Natur hinauszog und dort bei Geländespielen das im Unterricht Gelernte lebendig werden ließ. Er wusste die Fantasie der Kinder zu beflügeln, er regte sie zur Naturbeobachtung an, und der Unterschied zwischen Schule und Freizeit verschwamm für den kleinen Hans Windekilde Jannasch „zu einem einzigen Glück“.

Sorbische ("wendische") Tracht
„Wendische“ Trachten – Festtag (links) und Alltag (rechts)

Die Schulklasse wurde bereits damals zum Zeugen von Franckes linguistischem Interesse. Die Herrnhuter Kolonie Kleinwelka war zwar einst von Sorben gegründet, aber nach und nach hatte die deutsche Sprache Oberhand gewonnen. Doch lebten noch immer viele „Wenden“, wie die Sorben damals genannt wurden, im Dorf und in der Umgebung. Während seines Aufenthalts hier erlernte Francke ihre Sprache. Auf den Spaziergängen und Wanderungen mit seiner Schulklasse versuchte er sie anzuwenden, wann immer sie auf eine „wendische Bauersfrau“ trafen.

Die "Vierten" (Francke)
Francke schrieb später eine Erzählung über seine Zeit mit den „Vierten“, den Kindern der vierten Klassenstube, denen er für die spielerischen Unterrichtungen Rollen-Namen gegeben hatte. Wie man sieht, hatten diese Missionarskinder die unterschiedlichsten Geburtsländer

Jannasch schrieb, dass Francke sich von seinem kümmerlichen Gehalt von 20 Mark im Monat keine Bücher leisten konnte. Daher entlieh er sie aus der Bibliothek – und ließ sich das für ihn Interessante von den Kindern kopieren, indem sie es gewissermaßen als Schreibübung für ihn sorgfältig abschrieben – darunter Aufsätze über Phonetik und Texte in Sanskrit, von denen sie selber dabei natürlich nicht das Geringste verstanden. Jahre später, als Jannasch einmal Francke besuchte, zeigte der ihm ganze Bände dieser Abschriften und versicherte ihm, dass die Schulkinder ihm damals einen unschätzbaren Dienst erwiesen hätten.

Text aus Tibet
Tibetischer Text – aus „LA-DVAGS-RGYAL-RABS“ (Chroniken von Ladakh)

Die Schüler erlebten Francke als unkonventionell, originell, anspruchslos und sehr großzügig. Das etwas bessere Essen, das er als Lehrer bekam, tauschte er oft mit einem besonders hungrigen Schüler. In den Sommerferien war er mit 60 Mark Reisegeld nach Schottland aufgebrochen. Bei Schulbeginn fehlte er: völlig abgerissen und ausgehungert wurde er auf der Dresdener Polizeiwache festgehalten, wo niemand ihm glauben wollte, dass er Lehrer war – bis der Schuldirektor ihn dort abholte.

Kyelang in Tibet
Kyelang, eine Siedlung der Herrnhuter Mission in Tibet, in der Francke tätig war

1896 wurde Francke zum Dienst für die Herrnhuter Mission nach Tibet berufen. Seine Halbcousine Marie Benemann, damals Schülerin an der Mädchenanstalt in Kleinwelka, erinnerte sich später, wie er eines Abends mit seiner jungen Braut Dora Weiz, bis dahin Lehrerin an der Mädchenanstalt, in ihr Elternhaus kam, um sich zu verabschieden. Das war doch ihre Lieblingslehrerin! Tränenüberströmt flehte sie Francke an, ob er nicht stattdessen eine andere Lehrerin mitnehmen könnte, die ihr verhasst war; damals wusste das kleine Mädchen allerdings noch nicht, was eine Braut ist.

August Hermann Francke mit seiner jungen Familie
August Hermann Francke mit seiner jungen Familie

August Hermann Francke reiste 1897 zwar als Missionar nach Tibet, doch als er nach 10 Jahren zurückkehrte, war er zu einem echten, allseits geschätzten Tibetologen, Archäologen, Ethnologen, Sprachkundigen und Übersetzer geworden. Von 1914 bis 1916 ging er zurück nach Asien, doch brachte der Ausbruch des 1. Weltkrieges ein unerwartetes schnelles Ende seiner Expedition, die in britischer Kriegsgefangenschaft endete. Ohne ein klassisches Hochschulstudium absolviert zu haben, erhielt er einen Ehrendoktortitel (1911), habilitierte sich 1922 und wurde 1925 als Professor an die Berliner Universität berufen. Doch die vielen „mageren“ Jahre hatten seine Gesundheit so angegriffen, dass er schon 1930, gerade einmal 50jährig, verstarb.

Grabstein Franckes in Rixdorf
Der Grabstein von August Hermann Francke auf dem Gottesacker der Herrnhuter Brüdergemeine in Berlin-Rixdorf

Für Hans Windekilde Jannasch war Francke eine solch prägende Persönlichkeit, dass er selbst nicht in die Fußstapfen seiner Eltern trat, wie die Herrnhuter dies von Missionarskindern erwarteten, sondern das Lehrerstudium wählte. Dabei verfolgte er – angeregt durch seine eigenen Erfahrungen und seine Erlebnisse mit Francke – Ansätze, die im Gegensatz zur herkömmlichen Pädagogik standen und ihn schließlich zum Reformpädagogen werden ließen. Er versuchte, sowohl in der Praxis – an Freien Schulen und Reformschulen, vor allem im Landschulheim in Holzminden – wie auch in der Theorie, mit Büchern und als Professor für Praktische Pädagogik an Hochschulen in Altona, Hirschberg und zuletzt Göttingen – kindgerechte, alternative Methoden umzusetzen. – Übrigens hatten bereits seine Großeltern Johann August Miertsching und Clementine Auguste Miertsching Erfahrungen im Unterrichten von Kindern – bei den Inuit in Labrador bzw. bei den Khoi-San in Südafrika.

Bis Ende April gibt es eine interessante Ausstellung über das Wirken Franckes im Museum im Böhmischen Dorf Rixdorf (Neukölln).

Dieser Beitrag wurde unter Geschichte, Miertsching abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert