Barbara Schennerlein: Aeroarctic – Das Zeppelin-Arktis-Projekt
Es hört sich fast romantisch an: Ein weltweit Aufsehen erregendes „Polar-Rendezvous“ in der „Stillen Bucht“ // Бухта Тихая // Buchta Tichaja von Hooker Island (Franz-Josef-Land) am 27. Juli 1931, an dem einige bedeutende Arktisforscher ihrer Zeit – wenn auch nur für 15 Minuten – zusammentrafen. Hier, in einer extrem entlegenen, von der Sowjetunion beanspruchten Region lag der sowjetische Eisbrecher „Malygin“ – der einst in Kanada zwischen dem Festland und Neufundland das Wintereis brach – vor der nördlichsten Polarstation der Welt, und hierhin flog das deutsche Luftschiff „LZ 127“.
Tatsächlich war dieses Aufeinandertreffen sehr verspätet. Es vergingen über 10 Jahre von der Vision einer internationalen Arktisexpedition per Luftschiff bis zur Umsetzung, die immer wieder herbe Rückschläge erlitt. Das vorgesehene Forschungsprogramm – von der geografischen und geomorphologische Erkundung weithin unbekannten Landes mit Hilfe der Photogrammetrie bis hin zu meteorologischen und geomagnetischen Messungen – musste immer wieder modifiziert bzw. gekürzt werden.
Die Ursachen für den wiederholten Aufschub und die jeweiligen Änderungen der Prämissen sind äußerst komplex. Es war ein Zusammenspiel von außen- und innenpolitischen Umständen und deren Weiterentwicklungen, technischen Problemen, zugesagten und wieder zurückgezogenen Finanzierungen, dazu kam ein Wandel der Interessenlagen, bei denen durchaus auch die Charaktereigenschaften der beteiligten Männer eine Rolle spielte, und nicht zuletzt der Tod einer der Schlüsselfiguren, des Arktisforschers Fridtjof Nansen.
Was da alles zwischen den ersten Ideen, die einer der Protagonisten, Walter Bruns, im Jahre 1919 vor der Naturforschenden Gesellschaft in Görlitz vorstellte, bis zur Arktisfahrt des Zeppelins 1931 passierte, ist für Interessierte äußerst schwierig zu recherchieren. Dennoch kann man es seit kurzem in einem handlichen Buch nachlesen, das diesen „Hindernislauf“ akribisch nachzeichnet: beginnend bei den konkreten Folgen des Friedensvertrages von Versailles von 1919, der für Deutschland viele Einschränkungen beinhaltete, über die Machtübernahme Stalins in der Sowjetunion, bis hin zu den internationalen und nationalen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ab 1929 auf dieses arktische Forschungsprojekt, das seit 1924 von der Gesellschaft „Aeroarctic“ vorangetrieben wurde.
Das neue Buch „Aeroarctic“ von Frau Dr. Barbara Schennerlein greift auf eine Fülle von Originalquellen aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Archiven zurück, die hier nachvollziehbar aufbereitet wurden, so dass nicht nur die Chronologie der Ereignisse deutlich wird, sondern auch die Kausalität der Wechselbeziehungen. Eine äußerst verdienstvolle Arbeit, die allen an der Geschichte der Polarforschung des 20. Jahrhunderts Interessierten eine Fülle von Fakten und Materialien erschließt.
Die Autorin hat selbst einige Wochen in „Бухта Тихая“ auf Franz-Josef Land verbracht und kennt so den Ort des Geschehens aus eigener Anschauung. Ihre Sorgfalt und Unermüdlichkeit beim Suchen und Finden der „Puzzlestücke“ in den Archiven, ihre Ausdauer beim Recherchieren ist bemerkenswert. Wie in einem der Kapitel geschildert, kamen dazu dann auch noch Zufall und Glück, so dass neben der Auswertung der unzähligen Dokumente und zahlreichen historischen Detailkarten mit den eingezeichneten Routen sogar Luftaufnahmen aus dem Zeppelin im Buch enthalten sind.
Dieses Buch ist nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch bemerkenswert. Bei Sachbüchern sieht man eine solch bewusst gestaltete Synthese von Buchcover, Illustrationen und besonderer Typographie (ausgeführt vom Bureau Punktgrau) nicht allzu oft. Sehr nützlich ist auch eine Zeittafel im Anhang, die wichtige Ereignisse der Polar- und Zeitgeschichte in einer Übersicht zusammenführt. Nur ein Wunsch blieb offen: ein Personenregister wäre hilfreich gewesen.
Arktisforschung ist eigentlich per sé immer international – oder sollte es zumindest sein; denn was in der Arktis passiert, wirkt sich auf den gesamten Planeten aus. Das Beispiel „Aeroarctic“ zeigt, dass dieses internationale Zusammenwirken bei den unterschiedlichen Interessenlagen der beteiligten Länder alles andere als einfach ist – etwas, das wir auch heute wieder erleben, wo die Kooperation in der Arktisforschung herbe Rückschläge erfährt und imperiale Machtinteressen den Bemühungen zum Überleben der Menschheit in der Klimakrise entgegenstehen.