Über diese Novelle schrieb Thomas Mann einst, sie sei eine „Verbindung von Menschentragik und wildem Naturgeheimnis, etwas Dunkles und Schweres an Meeresgröße und -mystik“, das „die Novelle, wie er sie verstand, als epische Schwester des Dramas auf einen seither nicht wieder erreichten Gipfel führte“ (zitiert nach der Textausgabe „Der Schimmelreiter“ in Reclams Universal-Bibliothek).
Für mich bleibt diese spannende Novelle zeitlos und zeigt den Beginn der modernen Industrialisierung. Die Hauptperson Hauke Haien steht im Widerstreit zum Aberglauben der Dorfbevölkerung und ihren rückwärtsgewandten Ideen, was der Autor dramaturgisch vorantreibt und zuspitzt. Mein Zyklus zeigt mit Storms Schimmelreiter, wie der Mensch sich selbst abschafft. Die Hauptfiguren im Roman sind dem Untergang geweiht, nur der Damm steht als Zeichen und Mahnung. Auch wenn diese Geschichte im Norden Deutschland angesiedelt ist, betrifft sie uns alle!
Meine Erinnerungen reichen weit zurück an meine Schulzeit, in die zehnte Klasse, als wir den Schimmelreiter behandelten. Die dramatische Szene, als Hauke Haien auf dem Schimmel am Uferdamm mit „Wutgebrüll“ entlang des Meeres ritt, prägte sich tief in mein Gedächtnis ein – bis heute. Interessanterweise wurde zu Zeiten des Kalten Krieges „Der Schimmelreiter“ in West- wie in Ostdeutschland in der Schule behandelt.
Für mich bleibt diese Novelle einzigartig und regte mich zum Illustrieren an. Es entstanden neunzehn Arbeiten in expressiver Form: der malerische Zyklus „Der Schimmelreiter“ nach Theodor Storm (Technik: Collagen, Pastell, Leimfarben; Konsumwerbepapier 50 x 65 cm).
Das Meer frisst und frisst Land, und das seit menschlichem Gedenken. Über Hunderte von Jahren ringt der Mensch dem Meer Boden ab und baut Deiche, um sich vor den Sturmfluten zu schützen. Anderseits heizt er künstlich das Klima auf, um seinen Komfort ständig zu modernisieren.
„Unwillkürlich riß er das Pferd zurück; da flog der letzte Wolkenmantel von dem Mond, und das milde Gestirn beleuchtete den Graus, …“
Meinen Maluntergrund für den Zyklus bilden Werbeprospekte, mit denen wir alltäglich zugeschüttet werden. Tausende Dinge, die Frau/Mann nicht brauchen, die aber als Rauschen im Hintergrund existent sind. Die Kaufkraft wird ins Unendliche angekurbelt, ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt. Mit unserer Sesshaftigkeit und Domestikation hat sich eine Spirale gebildet, eine Überproduktion, der wir nicht mehr Herr werden, und wir ersticken im Werbemüll.
Auf meiner Webseite www.ullrich-wannhoff.de erfahren Sie mehr über meine vielseitigen Tätigkeiten und Ausstellungen, die mich von Dresden bis nach New York brachten.
Aus Anlass des Geburtstags von Johann August Miertsching
Sie glaubten sich allein und isoliert in der Einöde der arktischen Eismeers – und ahnten nicht, dass ganz nahe Europäer vorbei ruderten, die davon ebenfalls nichts wussten und sich wohl genauso allein und isoliert fühlten. Es war lange bevor es Funkgeräte oder gar Satellitennavigation gab; Schiffsbesatzungen „sprachen“ mittels Flaggensignalen miteinander – falls man denn Sichtkontakt hatte. Vor Alaska hatte die Crew der Bark HMS Investigator letztmalig Ende Juli 1850 zwei dort stationierte Schiffe der Royal Navy – HMS Plover bzw. HMS Herald – kontaktiert.
Historisches Beispiel für Signalflaggen. Bild: Projekt Gutenberg
Ab August aber war die Besatzung der Investigator ganz allein und auf sich gestellt im Polarmeer unterwegs. Vom dichten Packeis weiter nördlich gezwungen, immer in Küstennähe weiter in Richtung Osten zu segeln, erreichten sie am 21. August 1850 das Delta des Mackenzie Rivers mit seinen zahlreichen vorgelagerten Inseln. Am Abend ankerte HMS Investigator vor Pelly Island. „Meinen Geburtstag konnte ich heute so recht in aller Stille feiern. Abends zwei recht angenehme Stunden in meiner Kajüte, mit Mr. Piers und Farquarson“ schrieb Miertsching ins Tagebuch. Am nächsten Tag kreuzten sie bei Gegenwind vor der Küste, in Sichtweite der Inselgruppe mit Pelly Island, Garry Island, Kendall Island und Richards Island.
Sie ahnten nicht, dass nur vier Wochen zuvor Europäer hier vorbeigerudert waren und auf dem Weg nach Osten genau auf diesen Inseln ihr jeweiliges Camp aufgeschlagen hatten. Es handelte sich um eine Expedition mit zwei Booten unter Leitung von Leutnant William J.S. Pullen und Leutnant William Hulme Hooper, die bereits im Sommer 1849 von HMS Plover vor Alaska aufgebrochen waren, um an der Küste nach Spuren der vermissten Franklin-Expedition zu suchen. Anfang September waren sie bis zur Mündung des Mackenzie Rivers gekommen, wo sie der Wintereinbruch zwang, landeinwärts den Fluss hinauf nach Süden zu rudern.
Die Pullen/Hooper-Expedition erreichte Fort McPherson, wo sich die Gruppe aufteilte, um in den Stationen der Hudson’s Bay Company – Fort Simpson und Fort Franklin – zu überwintern. Im Juni 1850 waren sie erneut aufgebrochen, um nun die Suche östlich des MacKenzie Deltas fortzusetzen, und hatten Ende Juli wieder das Delta erreicht. Sie stießen noch bis nach Cape Bathurst vor, doch der Versuch, darüber hinaus in die Franklin Bay weiter ostwärts zu gelangen, scheiterte am schweren Packeis, das ihnen den Weg versperrte, so dass sie sich am 13. August zur Umkehr entschlossen, um wiederum in Fort Simpson zu überwintern.
Auf dem Rückweg erreichten Hooper und Pullen am 20. August Nuvarok Point, am 22. passierten sie Toker Point auf der Halbinsel östlich vom heutigen Tuktoyaktuk. Zur gleichen Zeit kreuzte HMS Investigator in weniger als 100 km Entfernung bei Nebel, Regen und Schnee vor Pelly, Kendall und Richards Island. Die beiden Expeditionen bewegten sich aufeinander zu, allerdings vermutlich in unterschiedlichem Abstand zum Festland. Im Laufe des 23. August erreichten beide Expeditionen die Bucht vor Tuktoyaktuk, in die der Hauptarm des Mackenzie River einmündet – und fuhren irgendwo aneinander vorbei.
Mackenzie-Delta mit Pelly Island, wo HMS Investigator am 21. und 22. 8. kreuzte. Abbildung: NASA
Im Laufe des 24. entfernten sich die beiden Expeditionen wieder voneinander: Pullen und Hooper legten an der Insel an, die heute Hooper Island heißt, und benannten die nördlich davon gesichtete Insel Pullen Island. Besatzungsmitglieder von HMS Investigator hingegen gingen an der Halbinsel östlich von Tuktoyaktuk an Land, wo sie Kontakt mit der Inuit-Gruppe um ihren Führer Kairoluak aufnahmen – vermutlich am Toker Point. Das Schiff setzte in den nächsten Tagen seinen Ostkurs über Point Warren in Richtung Cape Bathurst fort, wohingegen Hooper und Pullen wieder in den Mackenzie-Fluß hineinfuhren; sie überwinterten wieder in Fort Simpson und kehrten im Sommer 1851 über York Factory an der Hudson Bay nach England zurück.
Mehr über die Reise von Miertsching und der Investigator-Crew, die die nächsten vier Winter im Eis der Arktis verbringen mussten, hier. Über die Pullen-Hooper-Expedition berichtet das Buch von William Hulme Hooper: Ten Months Among The Tents Of The Tuski with incidents of an Arctic Boat Expedition in search of Sir John Franklin, London 1853.
Erst im Nachhinein wurde klar, dass dieser 20. Juli in vieler Hinsicht entscheidend für den letztendlichen Erfolg der HMS Investigator war – die Entdeckung der Nordwestpassage.
HMS Enterprise und HMS Investigator in der Polarnacht (auf einer vorherigen Suchexpedition 1848-49 bei Port Leopold)
Der ursprüngliche Plan der britischen Admiralität sah vor, dass die Schiffe HMS Enterprise und HMS Investigator im Sommer 1850 gemeinsam von der Beringstraße aus ostwärts in die Arktis fahren sollten, um nach der verschwundenen Franklin-Expedition zu suchen.
Richard Collinson, Befehlshaber der Expedition und Kapitän von HMS Enterprise
Die beiden Schiffe, deren Segelgeschwindigkeit sich deutlich unterschied, waren aber schon seit Wochen getrennt, und HMS Enterprise unter Kapitän Richard Collinson erreichte vor HMS Investigator unter Kapitän Robert McClure den Hafen Honolulu auf Hawaii. Nicht wissend, wann die Investigator eintreffen würde, entschloss sich Collinson, allein weiterzufahren, wohl wissend, dass sich Johann August Miertsching, Übersetzer für die Kommunikation mit den Inuit, an Bord der Investigator befand. HMS Enterprise nahm einen wohlbekannten Kurs auf – zunächst in Richtung Kamtschatka.
Robert McClure, Kapitän von HMS Investigator
Collinson hatte in Honolulu einen Brief für McClure hinterlegt, in dem mitteilte, dass er nunmehr am Cape Lisburne auf die Investigator warten würde, jedoch plante, „im Falle dass die Investigator die Beringstraße nicht rechtzeitig erreichen sollte, mit der Enterprise entweder allein oder zusammen mit der beim Cape Lisburne im Nordwesten Alaska stationierten HMS Plover auf die Suche nach der Franklin-Expedition zu gehen, wohingegen die Investigator die Rolle der Plover als fest stationiertes Schiff übernehmen müsste.“ (Zitat aus unserem Buch)
Hafen von Honolulu, ca. 1850
Als HMS Investigator in Honolulu eingetroffen war, rief Collinsons Brief bei McClure und seinen Offizieren massive Unzufriedenheit hervor. Sie wollten nicht bei Cape Lisburne stationiert werden; schließlich hatten sie sich als Freiwillige der Suchexpedition angeschlossen und wollten nicht darauf verzichten, an der Auffindung der Franklin-Expedition und den damit verbundenen Ehrungen beteiligt zu sein.
Die Passage der Investigator durch die Aleuten-Inseln
Wie auch Collinson war McClure darauf hingewiesen worden, dass der schnellste Weg nach Norden mitten durch die Inselkette der Aleuten führe. Als ihm dieses nun vom Kapitän eines Handelsschiffes bestätigt wurde, gab es für McClure kein Zögern mehr: die Investigator nahm umgehend direkten Kurs auf die Aleuten, wo sie am 20.7. den Seguam Pass zwischen den Inseln Amlia und Seguam erreichten. Damit hatten sie den langen Umweg in Richtung Kamtschatka um mindestens zwei Wochen abgekürzt.
Pyre Peak auf der Aleuten-Insel Seguam, Foto: USFWS
Nachdem McClure Ende Juli Cape Lisburne erreicht und dort vergeblich nach der Enterprise Ausschau gehalten hatte, entschied er sich, allein in die Arktis weiterzusegeln. So fuhr HMS Investigator noch rechtzeitig um Cape Barrow ins Polarmeer, bevor das Packeis im Spätsommer diese Passage erneut verschließen würde.
HMS Investigator am Ort der ersten Überwinterung 1850 in der Prince of Wales Strait
Noch im gleichen Herbst konnten sie die Entdeckung der Nordwestpassage feiern, fanden jedoch keinerlei Spuren der vermissten Franklin-Expedition. Mehr dazu in unserem Buch über das Leben von Johann August Miertsching „Weil ich ein Inuk bin“.
Am 8. Juli 2023 jährt sich zum 100. Mal der Tag, an dem der Warnemünder Pilot Arthur Neumann als erster ein Flugzeug von Spitzbergen aus in Richtung Nordpol lenkte. Neumann, Pilot im 1. Weltkrieg, kam 1919 nach Warnemünde und arbeitete ab 1923 für Junkers Luftverkehr AG, das damals führende Flugverkehrs-Unternehmen.
Arhtur Neumann (hier in Island); Foto: Á.B./Ljósmyndasafn Akraness
Junkers hatte bereits zwei Flugzeuge vom Typ F 13 an Roald Amundsen – den Bezwinger des Südpols, der Nordwest- bzw. auch der Nordost-Passage – geliefert. Amundsen wollte nonstop von Alaska über den Nordpol nach Spitzbergen fliegen. An der Montage des in Einzelteilen in Kisten gelieferten Flugzeugs waren jedoch keine Spezialisten von Junkers beteiligt. Nach einem kurzen Testflug brach der linke Ski bei der Landung, und der nun verunsicherte Amundsen blies den geplanten ersten Flug über den Nordpol ab.
D 260 auf Spitzbergen, Foto: Walter Mittelholzer
Bei Junkers war man in Sorge über Amundsens Ambitionen und hatte zur Absicherung des Polarflugs eine weitere F13 (D 260) mit dem Flieger Arthur Neumann auf den Weg nach Spitzbergen geschickt, als plötzlich Amundsens generelle Absage eintraf. Junkers beschloss nun, das Flugzeug, geführt von Neumann und dem ihn begleitenden bekannten Schweizer Flieger und Fotografen Walter Mittelholzer, für Erkundungsflüge und erste Luftbildaufnahmen Spitzbergens zu nutzen.
Blick vom 80. Breitengrad auf Spitzbergen, 1998
Beim letzten dieser Flüge mit der D 260, dem „Eisvogel“, gelang es Neumann am 8.7.1923, trotz nicht störungsfrei arbeitendem Motor erstmalig mit einem Motorflugzeug den 80. Breitengrad zu überfliegen. Nach diesem mehr als sechsstündigen Rekordflug landeten sie im Basislager im Gronfjorden, der Bucht, wo sich heute die russische Siedlung Barentsburg befindet. Hier mussten sie allerdings feststellen, dass ein Ersatzteil zur Reparatur des Motors nicht zur Verfügung stand, und somit wurde das gesamte Unternehmen abgebrochen.
Barentsburg auf Spitzbergen, 1998
Man hatte jedoch den Beweis geliefert, dass Flugzeuge für die Erkundung der Arktis geeignet waren. Die fotografische Ausbeute Mittelholzers auf diesen Flügen war immens, selbst ein 16 Minuten langer Film ist bis heute erhalten geblieben. Arthur Neumann äußerte später, dass sie nach einer Reparatur des Motors gute Chancen gehabt hätten, erstmalig den Nordpol zu erreichen.
Arthur Neumann auf Island, wahrscheinlich 1929, Foto: Á.B./Ljósmyndasafn Akraness
Für Arthur Neumann war es wohl der einzige Arktisflug, obwohl er als Pilot einer weiter entwickelten F13 von Junkers mit dem Namen „Súlan“ für die Lufthansa 1929 und 1930 in Island tätig war und bei der Gelegenheit auch den Polarkreis überflogen haben könnte.
Arthur Neumann auf Vestmannaeyjar, wahrscheinlich 1929, Foto: unbekannt
Im Sommer 1929 flog Neumann mit der D 463 „Súlan“ eine Gesamtstrecke von 22.500 km und transportierte unter anderem 580 Passagiere, Post und Waren.
Arthur Neumann bei Akranes, Island; Foto: Á.B./Ljósmyndasafn Akraness
Landschaft bei Akranes, Island, 2017
Zu seinen Aufgaben bei der Lufthansa gehörten neben Flügen nach Skandinavien, u.a. Stockholm 1924, auch Touristenflüge entlang des Ostseeküste. In diesen Jahren bildete er ebenfalls sowjetische Piloten im Blindflug aus, was offensichtlich im Zusammenhang mit Junkers Flugzeugbau-Aktivitäten in der UdSSR stand.
Die „Súlan“ schmückt eine isländische Briefmarke (D 463, links unten)
Leider sind von Arthur Neumann nur wenige persönlichen Aufzeichnungen über seine Zeit als Pilot in Island und fast nichts über sein späteres Fliegerleben bekannt. Wären da nicht das Buch „Im Flugzeug dem Nordpol entgegen“ von Mittelholzer, dessen wunderbaren Fotos in den Archiven und verstreute Artikel in DDR-Zeitschriften und Tageszeitungen (u.a. in der NNN von Reiner Frank geschrieben), wäre der Polarflieger Arthur Neumann aus Warnemünde, der als erster Flieger überhaupt von Spitzbergen in Richtung Nordpol geflogen war, längst vergessen.
Briefe von Arthur Neumann; mit vielem Dank an Reiner Frank
Arthur Neumann starb 84jährig am 4. März 1974 in Rostock. Falls sich jemand im Besitz von unbekannten Dokumenten aus dem Nachlass befinden sollte oder Hinweise geben kann, bin ich dankbar für eine Nachricht. Mehr über Arthur Neumann auf hier: „Ein Polarflieger aus Warnemünde„
Am 4. Juni 1857 brach Roderick MacFarlane, Angestellter in der Niederlassung Fort Good Hope der Hudson’s Bay Company am Mackenzie River, zu einer Bootsfahrt in den Norden auf.
Auf Miertschings Spuren unterwegs – Mackenzie River, 2019
Er wollte endlich in direkten Kontakt mit den Inuvialuit – einem Inuit-Volk – treten. Ihn begleiteten sechs Männer, darunter zwei frankokanadische „Voyageurs“ und vier Angehörige der First Nations, vermutlich Satuh Dene. Auf Seen und Flüssen und über viele Portagen suchten sie einen Weg nordwärts zum „Begh-Ula River“ (Anderson River), den sie eine Woche später erreichen. Hier war das Eis bereits aufgebrochen. Die Satuh Dene, die hier ihre Fischgründe hatten, trieb gelegentlich Handel mit den Inuvialuit weiter im Norden.
Robert MacFarlane (Archives of Manitoba)
Flussabwärts auf dem Anderson River kam MacFarlane mit seinen Leuten nunmehr schnell voran und erreichte schon nach zwei Tagen einen Siedlungsplatz der Inuvialuit. Über einen Dolmetscher versuchte er, diese zum zukünftigen Handel mit der Hudson’s Bay Company zu überreden, was ihm offenbar gelang.
Karibu-Jagd, Malerei der Inuvialuit aus der Sammlung von MacFarlane National Museum of Natural History, Smithsonian Institution
McFarlane hatte aber noch ein zweites Anliegen: er wollte etwas über den Verbleib der Berichte von Kapitän McClure erfahren. Als 1850 die Crew von HMS Investigator im August bei Cape Bathurst auf eine Gruppe von Inuvialuit traf, übergab der Kapitän mithilfe seines Übersetzers Johann August Miertsching dem Elder* Kenalualik ein Bündel mit Berichten für die britische Admiralität und Briefen. Er bat darum, diese an die Hudson’s Bay Company in Fort Good Hope weiterzuleiten.
Inuvialuit am Cape Bathurst, 1850
„Der Kapitän zweifelte, ob die Briefe jemals London erreichen würden, denn die Männer hatten erzählt, dass sie lediglich mit den sogenannten Locheaux oder »Hare Indians« (sie selbst bezeichneten sich als Satuh Dene) Handel treiben; diese wiederum würden allerdings mit der Hudson’s Bay Company im Süden handeln, aber es war eben kein direkter Weg. Miertsching war jedoch zuversichtlich, denn Kenalualik hatte ihm versprochen, sein Bestes zu tun, um die Post zu befördern.“ (Zitat aus unserem Buch „Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – Ein Lebensbild„). Doch McClure schien mit seiner Skepsis Recht behalten zu haben, denn als er 1854 nach London zurückgekehrte, musste er feststellen, dass die an Kenalualik übergebene Post nicht bei der Admiralität eingetroffen war.
Beaufort-See, Mackenzie-Delta, Tuktoyaktuk-Halbinsel, Fort Anderson, Cape Bathurst; verwendete Karte: Canadian Museum of History
McFarlanes Bemühungen um das vermisste Postbündel hatte zunächst keinen Erfolg: die Inuvialuit schienen wohl nichts davon zu wissen, woran er zwar aufgrund ihrer Reaktionen – Minen und Gesten – einige Zweifel hatte, doch er war auf Übersetzer angewiesen und konnte zunächst nichts ausrichten. Auf seinem Rückweg erforschte er noch den Anderson River flussaufwärts, bevor er über den Lake Colville am 14. Juli wieder nach Fort Good Hope zurückkehrte.
Auch in den folgenden Jahren, als er einige Winterreisen nach Norden unternahm, fragte McFarlane wiederholt nach dem Bündel – ohne Erfolg. 1861 wurde schließlich am Anderson River ein Handelsposten, Fort Anderson, errichtet. Als MacFarlane von hier aus im Februar 1862 das Winterlager einer anderen Inuvialuit-Gruppe besuchte und seine übliche Frage stellte, wusste man dort sogleich Bescheid. Es stellte sich heraus, dass Kenalualik bereits lange vor 1857 verstorben war. Wie es Tradition war, hatte man sein persönliches Eigentum, aber auch das Bündel mit der Post ins Grab gelegt! Es dauerte noch einige Wochen, bis es aus dem Grab geborgen werden konnte, aber am 5. Juni 1862, fünf Jahre nach MacFarlanes erster Reise zu den Inuvialuit, kam einer von ihnen nach Fort Anderson und übergab das nahezu unversehrte Paket.
Das ehemalige Fort Anderson (1861-66), Zeichnung von Èmile Petitot
Schließlich – mit 12 Jahren Verspätung – kam die so lange im arktischen Boden vergrabene Post, nunmehr befördert über Port Simpson und Red River (Winnipeg), 1862 in London an.
Auf Miertschings Spuren unterwegs: In der Inuvialuit-Siedlung Tuktoyaktuk, 2019
In diesem Bündel befanden sich auch Privatbriefe, darunter ein Brief Miertschings an seine Familie, seine Freunde und die Leitung der Brüdergemeine. Wir glaubten unseren Augen nicht zu trauen, als wir 2017 überraschend diesen zuvor völlig unbekannten Brief in einer Ablage im Unitätsarchiv in Herrnhut entdeckten! Der Zufallsfund brachte uns auf die Spur dieses bemerkenswerten postalischen Umwegs über das Grab eines Inuk. – Zu diesem Brief später mehr.
Brief Miertschings an Familie, Freunde und Vorgesetzte. Er endete in einer Ablage.
Übrigens erwarb McFarlane von den Inuvialuit am Anderson River einige Sammlerstücke – darunter die bisher älteste bekannte graphische Inuit-Kunst in Kanada, mit Farbe auf Holzbretter gemalt.
Inuvialuit beim Eisfischen – aus der Sammlung von MacFarlane National Museum of Natural History, Smithsonian Institution
* („Ältester“, eigentlich: erfahrenste Person, eine Art gewählter temporärer Anführer)
Eine Rezension zu Adam Nicolsons Buch über „Papageientaucher, Tölpel und andere Meeresreisende“
Auf wunderbare Weise erzählt der Autor in poetischer und populärwissenschaftlicher Sprache über das Leben der Seevögel. Mit heutigen wissenschaftlichen Methoden und der Ausstattung vieler Vögel mit Sendern erfahren wir viel mehr als in früheren Jahren, als wir die meisten Seevögel nur an den Brutplätzen beobachten konnten.
„In diesem faszinierenden, mitreißenden erzählten Band zeigt Adam Nicholsen, dass Seevögel unsere Mitspieler in Drama des Lebens sind – und zugleich Metaphern für das, was wir sind und sein können“, steht auf dem Buchdeckel.
Der Langzeittrend der Vogelpopulationen geht in den letzten Jahrzehnten abwärts. Nur ein Beispiel: Durch die Überfischung werden die Wege der Lummen von ihren Fangplätzen zu ihren Brutplätzen länger und der damit verbundene Energieverbrauch größer, so dass viele keine Eier mehr legen, denn die verbleibende Energie brauchen sie für sich selbst.
Ein mahnendes Buch für nächste Generationen, schonend mit unserer Umwelt umzugehen und die Klimaziele einzuhalten. – Hier die Vogelarten, die im Buch vorkommen und die ich alle selbst auf hoher See oder an den Brutfelsen erlebt habe – und von denen manche Arten stark gefährdet sind: die Familien der Albatrosse, der Kormorane, der Sturmvögel, der Möwen. Die Arten: Dreizehnmöwe, Tölpel, Lummen, Papageientaucher, Tordalk und Eissturmvogel.
All diese Vögel habe ich in einem malerischen Zyklus in Collagen-Form vereinigt. Der geografische Schwerpunkt liegt hier in der Beringsee entlang der Inselkette der Aleuten, wo ich sie beobachten konnte. Dabei verwendete ich Werbeprospekte, mit denen wir alltäglich zugeschüttet werden, um unseren Konsum anzutreiben. Hierbei zeigt sich, wie wir mit unseren wertvollen Ressourcen umgehen und das Klima und Umwelt schädigen. Meine Arbeiten sollen auch mahnen und aufzeigen, wohin wir uns bewegen, wenn nicht Einhalt geboten wird. Dann werden wir diese Seevögel nur noch in Museen erleben, wie den ausgestorbenen Riesenalk.
Adam Nicolson: Der Ruf des Seevogels. Aus dem Leben von Papageientauchern, Tölpeln und anderen Meeresreisenden, Liebeskind Verlag 2021, 368 Seiten, 36€
Nach dem dritten entbehrungsreichen Winter an Bord von HMS Investigator war die gesamte Mannschaft körperlich geschwächt, Hunger und Skorbut forderten ihren Tribut. Als sie dann mit dem Eintreffen von Leutnant Pim – dem „schwarzen Mann mit dem Hundeschlitten“ – vor dem fast sicheren Tod gerettet worden waren, musste das noch immer fest vom Eis umschlossene Schiff schließlich verlassen werden.
Die Ankunft von Pim bei HMS Investigator veränderte alles
Miertsching war zwar heilfroh über die Rettung, doch er war auch traurig, vor allem wegen seiner Sammlungen – Fossilien, Ethnografika sowie ein Herbarium von ca. 4000 Pflanzen – wie auch wegen seines Tagebuchs, die an Bord bleiben mussten. „»Also mußte auch ich meine vierjährige Arbeit hier in Todt geben.« Das mag übertrieben klingen, aber Miertschings Niederschriften enthielten viele wertvolle Fakten und Begebenheiten aus fast dreieinhalb erlebnisreichen Jahren: Beschreibungen von Orten und Menschen, von Begegnungen und Funden, persönliche Eindrücke und zwischen den Zeilen auch über seinen Gemütszustand, seine Zweifel und seine Hoffnungen.“ (S. 291)
Saxifraga – Steinbrech
Am 11. April 1853 schrieb er ins Tagebuch: „Da wir alle unsre Sachen auf dem Schiff zurücklassen müssen, und nur erlaubt ist 2 paar Strümpfe nebst dem was man auf dem Leibe trägt mitzunehmen, so habe ich nun alle meine Sachen zusammengepackt; 4 mit Leder überzogenen Koffer, 1 Kasten mit Steinen; 1 Kasten mit Eskimo-Waffen; 1 Kasten mit getrockneten Pflanzen; 1 Lederne Huthschachtel. – Daß ich meine ganzen Schreibereien die mir viel Mühe gemacht haben und mir über alles andre werth sind verlassen muss, schmerzt mich sehr.“ Er hat nie erfahren, das Teile seiner Kästen später noch geborgen und nach London verbracht wurden.
Cresswell: Verlassen von HMS Investigator
Vier Tage später, bei stürmischem Wetter und Temperaturen um minus 20° C begann der Abmarsch nach Dealy Island: mehr als 300 km übers Eis mit schweren Lastschlitten, die mit Verpflegung, Zelten, Schlafsäcken, Werkzeug und Waffen beladen waren. „Cresswell hatte die Szene des Abschieds in einer Zeichnung festgehalten: Drei vollgepackte Schlitten stehen neben der Investigator auf dem Eis. Die einzelne Person ganz links könnte Cresswell selbst sein – oder aber Miertsching.“ (S. 293)
Cresswell: Mit den Schlitten übers Packeis
„Für gesunde Männer wäre die Last zu bewältigen gewesen, doch die geschwächten Seeleute kamen nur langsam voran: »Es gab heute viele lahme Pferde; … weil so viele durch die Scorbut-Kranckheit so entkräftet und leidend sind und kaum – sich an die Schlitten anhaltend – mit fortkommen können, so fiel die ganze Last auf die wenigen Gesunden«. Oft mussten sie auf Händen und Knien über das aufgetürmte Packeis klettern und die Schlitten mit vereinten Kräften einzeln über die Hindernisse hieven.“ (S. 294)
Nach sieben Tagen Marsch erreichten sie Melville Island, für Miertsching Anlass, trotz aller Anstrengung und Müdigkeit, sich nicht wie die anderen schlafen zu legen, sondern hügelan zu steigen; seine Gedanken an diesem Tag hielt er fest: „»Hier stand ich nun auf Mellvile Insel, und konnte mich bei allen Elend und Noth des schmeichelnden Gedancken nicht enthalten, daß ich hier in diesen Polar-Regionen der einzige Wende aus Deutschland bin, und an der seit mehr als 300 Jahren gesuchten nun von uns entdeckten Nordwestlichen Durchfahrt theil habe«; ein bewegender Moment, in dem er sein Bekenntnis zu seiner sorbischen Herkunft explizit zum Ausdruck brachte. Sein kleiner »Ausflug« auf den Hügel zeigt exemplarisch seine mentale und physische Stärke, die ihn so wichtig für das Überleben vieler Seeleute der Investigator machte. Leutnant Pim schrieb Jahre später über ihn: »…er war der nützlichste Mann an Bord [der Investigator]… .«“ (S. 295)
Das Buch von Robert Kindler verdeutlicht sehr gut die Kämpfe des 19. Jahrhunderts um die Ressourcen und die Macht – mit dem Fokus auf dem Verhältnis der Kommandeur-Inseln und Pribylov-Inseln zu den Ländern Russland, USA, Japan, Kanada und England. Das „weiche Gold“, wie man allgemein die Pelze in Russland bezeichnete, weckte im 18. Jahrhundert und bis in die Gegenwart große Begehrlichkeiten.
Die Kommandeur-Inseln sind wie ein Brennglas für das große Land. Das „Ernten“, wie man das Robbenschlagen bezeichnet, betrifft alle Peripherien Russlands bis heute, wo die Ortschaften an den Rändern, aber auch selbst im Landesinneren vernachlässigt wurden, auch während Sowjetzeit wurden noch viele Dörfer aufgegeben. Reformen, die unter Peter I., Katharina II. und Alexander II. begannen, blieben bis heute stecken. Archaisches Wirtschaften ist zu großen Teilen bis heute erhalten. Das Westeuropäische Wirtschaften bleibt den meisten Russen verschlossen, weil Denunziation, Diskriminierung, Vertrauensverlust, Unfähigkeit, Rechtlosigkeit und Korruption es nicht zulassen.
Mit enorm fleißigen Recherchen an vielen Orten kann der Autor deutlich machen, wie komplex und spannend alles verwoben ist. Die Recherchen fanden in erster Linie an Hand von Dokumenten und schriftlichen Originalquellen statt, und leider kommt dadurch – zumindest für mich – der Bezug zu den Menschen und den örtlichen Gegebenheiten zu kurz.
Den Titel „Robbenreich“ finde ich nicht besonders glücklich gewählt, weil die meisten dabei an Hundsrobben, an Seehunde denken. Hier aber geht es ausschließlich um die Nördlichen Seebären (Callhorhinus ursinus), die zur Familie der Ohrenrobben gehören. Es wäre gut, wenn Historiker sich mehr mit Zoologen austauschen würden.
Henry W. Elliott, Buchillustration
Über das Robbenschlagen wurde viel in russischer ,aber auch in englischer Sprache publiziert und mit vielen Tabellen unterlegt. Für den unbedarften Leser wären Auszüge von Tabellen hilfreich gewesen.
„Ernten“ der Pelze: Durch lautes Schlagen der Schulterblätter von Seebären werden diese vom Liegeplatz in Richtung Dorf getrieben. Illustration von H.W. Elliott
H.W. Elliott, Seebärenjagd – Ausschnit
Ich vermisse im Buch zudem die hochinteressanten Lebensläufe wichtiger Personen, die im Buch immer wieder auftauchen, wie Grebnetzki, Stejneger, Sokolnikow oder Suvorov. Außerdem fehlen mir die großartigen Zeichnungen und Aquarelle von H.W. Elliott (1846–1930), der auf den Pribylov-Inseln tätig war und sich für den Schutz der Liegeplätze der Tiere einsetzte.
H.W. Elliot, Illustration
Kindlers Bezug zu den Unangan (Aleut*innen), aber auch zu den Russen beruht hauptsächlich auf der gelesenen Literatur. Originalzitate hätten das Buch menschlich verständlicher gemacht als bloße kühle Recherche – die jedoch sehr gut ist, das steht außer Frage!
Ich selbst stand beim „Ernten“ der Seebären auf der Medny Insel, wo Naturschutz und die russische Pelzindustrie Hand in Hand arbeiteten, im blutigen Wasser. Die Tage danach waren von Traurigkeit untermalt.
Der Autor kennt offenbar nicht die vielen kleinen Interessengruppen, die heute das Leben auf der Insel zu Hölle machen können: Die Grenzsoldaten in einer eigenen Einrichtung mit Umzäunung in Nikolskoje, der FSB, die Russ*innen, die Unangan (Aleut*innen), die zerstrittenen Familien, die Administration vor Ort, die Administration der Zentralregierung in Moskau, die Naturschutzleute und die Naturwissenschaftler. Jede Gruppe hat andere Interessen.
Es
gibt heute „reiche“ russische Naturwissenschaftler, die von der
amerikanischen Industrie bezahlt werden und auch in der USA leben,
aber für Russland im Sommer vor Ort arbeiten (zur Erforschung von
Meeressäugern) und die ich auch begleiten durfte. Dann die „armen“
Wissenschaftler, die von Moskau bezahlt werden. Der Kleinkrieg ist
vorprogrammiert.
Die Fellproduktion an der Pazifikküste fiel nach 1991 in Schritten zusammen. In Nikolskoje wurden etwa 2002, mit der Gründung der Naturschutzzonen, die Nerzfarm und die Jagdgenossenschaft aufgegeben. Die Bewerbung bei der UNESCO als Weltnaturerbe in den 1990er Jahren fiel durch.
Das Schlimmste was nun passieren kann, wäre, wenn die Unangan (Aleut*innen) und Russ*innen von der Insel evakuiert werden: dann steht dem Raubbau Tor und Tür offen. In der Zeitschrift „Pogrom“ hatte ich schon 1996 einen Artikel über die Folgen einer Evakuierung angesprochen. Die kleinen Grenztruppen haben Null Interesse, die so gut gemeinte Naturschutzzonen zu überwachen. Private und staatliche Fischereifirmen hätten guten Zugriff, ohne belangt zu werden.
Die ökologischen Zusammenhänge zwischen Menschen, Fischen, Seebären, Kolonien der Seevögel und andere Meeressäugern sind dicht und komplex miteinander verwoben und lassen sich kaum einzeln sezieren. Trotz
dieser meiner teils kritischen Anmerkungen: das Buch ist absolut
lesenswert, und ich kann es nur sehr empfehlen!
Robert Kindler, Robbenreich – Russland und die Grenzen der Macht am Nordpazifik Hamburger Edition, 2022, 464 Seiten, gebunden, 11 Abb., 5 Karten, ISBN 978-3-86854-359-9,45€
Es war dem 1817 als Sohn eines Häuslers und Zimmermanns aus dem vorwiegend von Sorben bewohnten Gutsdorf Gröditz in der Oberlausitz wahrlich nicht in die Wiege gelegt, Beiträge zur Polarforschung zu leisten. Zu seinem Interesse für die Tier- und Pflanzenwelt und die Gesteine trug sicherlich die vielgestaltige Natur um Gröditz bei, insbesondere das von Felsen eingerahmte Engtal Gröditzer Skala am Löbauer Wasser mit seinem Auwald. Vermutlich haben Miertschings Lehrer sein Interesse noch gefördert, worauf ein Brief hinweist, den er im August 1850 in der Arktis schrieb.
Mühlwehr an der Gröditzer Skala, oben das Schloss. Zeichnung von C. Spielwerg, Archiv der EBU Herrnhut
Nach 8 Jahren Dorfschule in sorbischer Sprache endete die Schullaufbahn Miertschings mit seiner Konfirmation, und er erlernte das Schuhmacherhandwerk in der „Kolonie Kleinwelka“, einer Ansiedlung der Herrnhuter Brüdergemeine. Hier wurde er nicht nur mit den religiösen Auffassungen und ethischen Grundsätzen dieser Glaubensgemeinschaft vertraut. Ein beträchtlicher Teil der Gemeinde war bereits in Übersee gewesen, in jener Zeit etwas völlig Außergewöhnliches. Im Dorf wohnten einige Missionare im Ruhestand, aber auch Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die ihre ersten Lebensjahre an Missionsorten der Brüdergemeine in der Karibik, in Grönland, auf den amerikanischen Kontinenten oder in Afrika verbracht hatten.
Bossarts Buch mit Hinweisen zum Sammeln von Naturalien Archiv der Evangelischen Brüder-Unität Herrnhut
Viele der zurückgekehrten Missionare hatten in Ausland Objekte gesammelt und mit nach Hause gebracht, denn bei den Herrnhutern war man sehr wissensfreundlich. In der Natur sah man die Offenbarung der Schöpfung, die es zu erforschen galt. Es wurde sogar eine „Anleitung, Naturalien zu sammlen“ gedruckt, und viele der in aller Welt gesammelten Präparate wurden in Naturalienkabinetten ausgestellt. So konnte Miertsching sein Wissen erweitern, und es war nicht verwunderlich, dass er sich auf seinen eigenen Reisen mit Naturphänomenen befasste und ebenfalls zum Sammler wurde.
Gegenblättriger Steinbrech (Saxifraga oppositifolia) gesammelt von Miertsching 1851, in den Royal Botanical Garden KEW/London
Lebhafte Naturschilderungen, wie sie bereits gelegentlich in Miertschings Berichten aus Labrador auffallen, durchziehen auch das Tagebuch seiner Arktisreise 1850-54. Kein geringerer als Alexander von Humboldt nahm bereits kurze Zeit später Bezug auf Miertsching, als er sich im Band 4 seines Monumentalwerkes „Kosmos“ mit den „Smoking Hills“ östlich des Mackenzie-Deltas befasste.
Auszug aus Humboldts „Kosmos“ Bd. 4, 1858
Die „Smoking Hills“, 1850 aus der Distanz vom aus Schiff gesehen von S.G. Cresswell
Miertschings Beobachtungen polarer Insekten wurden von Entomologen ausgewertet und finden sich bis heute in vielen Standardwerken wieder. Seine Aufzeichnungen über die verschiedenen Inuit in Nordamerika, ihre Kleidung, ihre Werkzeuge und ihre Dialekte nahmen nicht nur wichtige Erkenntnisse Knud Rasmussens bei seiner 5. Thule-Expedition vorweg – der dänische Forscher zitierte Miertsching ebenfalls in seinen Schriften.
Miertschings Aufzeichnungen der Temperaturen und auffälliger Wetterereignisse enthalten wertvolles Material zur Erforschung des arktischen Klimas im 19. Jahrhundert. Sein Original-Tagebuch, das zu großen Teilen 1967 in englischer Übersetzung verlegt wurde und dessen Text sich vom „Reise-Tagebuch“ von 1855 unterscheidet, ist Quelle vieler auch aktueller Arbeiten zur Polarforschung, zitiert u.a. von Geografen, Botanikern, Zoologen, Ethnohistorikern, Archäologen und Polarhistorikern.
Obwohl Miertsching seine umfangreichen Sammlungen – u.a. ca. 4000 Pflanzen! – an Bord von HMS Investigator im Eis der Mery Bay zurücklassen musste und für immer verloren glaubte, sind von ihm gesammelte Präparate und Ethnografika in Londoner Museen gelangt – auf welchem Wege, kann man in unserem Buch: „Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – Ein Lebensbild“ nachlesen.
Am 14. Juli verließ die Crew um Vitus Bering die Mündung des Kamtschatka-Flusses in die offene See. Mit der St. Gabriel fuhren sie an der Küste Kamtschatka entlang bis zur Halbinsel Tschukotka und weiter ins Polarmeer. Am 15. August beschlossen sie umzukehren. Regen und Nebel verhinderte die Sicht auf die beiden Kontinente Asien und Amerika, obwohl die große Diomede-Insel nur ein Steinwurf entfernt von ihrem Schiff lag. Bering schrieb: …da das Land sich nach Norden nicht weiter strekte; nach der Tschutkischen oder Ostlichen See war auch kein Land anzutreffen; begab mich also auf die Ryk Reyse;…
Blick ins Buch: Die Route von Bering
Eine Woche zuvor waren sie „Bothen“ mit Tschuktschen begegnet. Auf der großen Karte (siehe Ausschnitt unten) ist das Fellboot sehr gut gezeichnet; auf Seiten der Halbinsel ist die gebirgige Uferzone erkennbar.
Blick ins Buch: Das Fellboot der Tschuktschen
Bering schrieb: Den 8ten Augustij befanden wir Nordlicher Breite avancieret zu seyn, unter dem 64.Grad und 30. Minuten da dann zu uns vom Ufer 8.Persohnen in einem ledernen both angerudert kamen, welche uns fragten, wher und westfals wir kämen; von sich selbsten aber sagten sie; daß sie Tschuktsche wären, welche denen Rußischen Einwohner schon lange bekandt gewesen; da wir sie uns auf Fahrzeug zu kommen nöthigten, machten sie aus einer Haut sterp genandt, so wie allhier See-Hund-Felle heißen…
Das von Bering beschriebene „Both“ ist ein Umiak, größer als ein Kajak, das als Transportboot oder zur Walroßjagd dient; solche Boote werden bis heute benutzt und werden auch Frauenboot genannt. Das Holzskelett wird mit Stricken verbunden und mit Walroßhäuten ummantelt. Zum besseren Schutz wird es noch mit Ölfarbe angestrichen. Die Aufnahmen stammen knapp unterhalb des 64. Breitengrades.
Bering schrieb: …kamen sie abermahl zu uns, mit einem both, sagten daß ihre nation Tschukotsch heiße, nebst den Uffer an der See in großer Menge wohnen, das Land wäre nicht weit von hier…
Wir unterscheiden die Rentier-Tschuktschen und die sesshaften Tschuktschen, die an der Meeresküste leben und sich von Fischen und Meeressäugern (Grauwale und Walrosse) ernähren. Wie auch die Yupik leben Tschuktschen heute auf beiden Seiten der Beringstrasse (Russland/USA) .
Die tiefeingeschnittene
Bucht Natalja befindet sich in Nordkamtschatka angrenzend an
Tschukotka. In den Nebelbänken verschwinden die Berge, die bis weit
in den Sommer mit Schnee bedeckt sind.
Ein großartiger Archiv-Fund von Gerd van den Heuvel liegt mir in Form eines neuen Buches vor. Es handelt es sich um die Handschriften von Berings Journal der Ersten Kamtschatka Expedition 1725-1730. Der Bericht erschien in Westeuropa 1735 in verschiedenen Auflagen.
Gerd von den Heuvel, Captain Behring’s Journal, Wallstein-Verlag
Berings handgeschriebene Aufzeichnungen stammen aus dem Niedersächsischen Landesarchiv Hannover. „Nach Hannover dürfte dieser Expeditionsbericht zusammen mit den Akten der Deutschen Kanzlei in London nach dem Ende der britisch-hannoverschen Personalunion (1714-1837) gelangt sein“, schreibt die Präsidentin des Niedersächsischen Landesarchiv Sabine Graf.
Der Deutsche Naturforscher Georg Wilhelm Steller (1709-1746) schrieb umfangreiche naturwissenschaftliche Berichte über die Zweite Kamtschatka-Expedition – auch Große Nordische Expedition genannt. Doch bereits Berings Schriften über die Erste Kamtschatka-Expedition enthalten viele interessante kartografische und ethnografische Aufzeichnungen; mitsamt all den Strapazen und den logistischen Details der Reise.
Blick ins Buch – Karte der Expedition
Einen Teil des im Buch abgebildeten Bildmaterials (aus der Kartensammlung Mappe XXXIV B 6a (61 x 136 cm) des Landesarchivs Hannover) möchte ich hier kommentieren:
Blick ins Buch: „Darstellung der Tungusen“
1 – Darstellung der Tungusen: Mit großer Wahrscheinlichkeit sind hier Ewenken dargestellt, deren Verbreitungsgebiet sich vom Baikal bis zur Ochotskischen Küste ausdehnt und südlich vom Hafen Ochotsk an das Gebiet der Ewenen angrenzt. Der Vogel in der Hand des Mannes ist wahrscheinlich ein Schneehuhn; der Fisch, den die Frau hält, ist möglicherweise ein Omul.
Blick ins Buch: Kartenausschnitt
2 – Kartenausschnitt: das Ochotskische Meer mit der Festlandküste und die Halbinsel Kamtschatka: Mit Tungusen wurden früher die Ewenen, Ewenken und die Völker Mittelsibirien bezeichnet. „Lamuten“ ist eine alte Bezeichnung für die östlichen Völker Nordasien, wo man unter andern Korjaken, Ewenen und Jukagiren in Ostsibirien einbezieht. Selbst Sten Bergman schreibt im Buch über seine Kamtschatka-Expedition (1920-1923) noch von Lamuten, wobei die Kleidung der Ewenen abgebildet wurde. Links unten im Bild sehen wir den Hafen Ochotsk. An den Küsten ziehen sich Wälder (Taiga) entlang, die symbolisch mit Bäumen gekennzeichnet sind.
Blick ins Buch – Detailansicht Kamtschatka
3 – Kartenauschnitt vom südlichen und mittleren Teil Kamtschatkas: „Curil“ bezeichnet das Volk der Kurilen, deren Gebiet sich zu dieser Zeit von den Kurileninseln bis zum Hafen Bolscherertsk ausdehnte. Die Kurilen wurden erst Ende des 19. Jahrhunderts aus Südkamtschatka umgesiedelt. Unten links, an der Südwestküste Kamtschatkas, ist mit dem Fluss „Bistra“ der Hafen eingetragen. Im Winter 1727/1728 ging der ganze Transport der Expedition flussaufwärts zur Wasserscheide und dann in den „Chamcatschiche Rever“ [Fluss Kamtschatka]. Für den Transport war damals Martin Spangberg verantwortlich, der später als Kapitän die Kurilen und Japan bereiste. „Wirchna Ostrog“ war eine wichtige Festung auf mittlerer Höhe des Flusses Kamtschatka; heute liegt in der Nähe der Ort Milkovo. Dann kommt „Nirne Chamscatische Ostrog“ (heute Nischny Kamtschatsk), wo die St. Gabriel gebaut wurde. Der Autor schrieb „an der Küste“, was nicht richtig ist, weil es an dieser keine Wälder gibt, aus denen man das Holz für die Boote entnehmen konnte. Im Osten Kamtschatkas sehen wir auf der Karte zwei Mal einen „Brenenden Berg“. Das sind aktive Vulkane, die bis heute spucken. Bering schreibt: „Bey meiner Ankunft zu der untern Chamschadalischen Vestung [das alte Nischny Kamtschatsk liegt heute etwa 30 Kilometer westlich von Klutschi] wurden die mehresten baumaterialien zu Verfertigung eines neuen Fahrzeuges angeschaffen; den 4. April 1728 ein Anfang zum Bauen gemacht, welcher auch den 10.Juli darauf Gottlob fertig wurde. Besagte baumaterialien wurden mit Hunden aus dem Walde hergebracht, theer brandte man aus baumern, welche Blätter oder Lerchen Baum genannt werden, Branntwein branten wir aus einem dort wachsenden süßen Wax Gras [Bärenklau] und Kräuter…“. Auf der Karte sind deutlich die vielen Flüsse zu sehen, die aus dem westlichen und erkalteten Vulkangebirgsrücken in das Ochotskische Meer fließen.
Für den unvoreingenommenen Betrachter bleiben einige Details unscharf, was den nicht professionellen Abbildungen geschuldet ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die im Buch verwendete Karte eine gezeichnete Kopie der von Berings Seeoffizier Pjotr Tschaplin geschaffenen, siehe farbige Abbildung unten. Diese befindet sich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Beide Karten sind inhaltlich nahezu identisch, aber die künstlerische Ausführung und die Handschrift unterscheiden sich. Die im Buch „Captain Behring’s Journal“ verwendete Kopie und deren Ausschmückung hat eine höhere Qualität als die des Seeoffiziers Tschaplin in Göttingen.
Karte der Kamtschatka-Expedition von Pjotr Tschaplin, SUB Göttingen
Nachdem 1855 Johann August Miertschings „Reise-Tagebuch“ seiner Arktisexpedition – und schon ein Jahr später eine zweite Auflage – erschienen waren, wurden nach einer 1857 erfolgten Übersetzung ins Französische zwei Auflagen in Genf verlegt. 1860 erschien im Verlag von Peter Tidemand Malling in Christiania, dem heutigen Oslo, auch eine dänische Ausgabe.
„Reise-Dagbog af Missionær Joh. Aug. Miertsching“
Das Gebäude der Druckerei in Christiania (heute Oslo)
Auf den ersten Blick erscheint das ungewöhnlich. Hätte nicht eine englische Übersetzung näher gelegen? Allerdings gab es ja schon Daniel Benhams „Sketch of the life of Jan August Miertsching“, die gleich nach dessen Rückkehr aus der Arktis 1854 in London erschienen war.
Auf den zweiten Blick aber ist eine dänische Ausgabe sogar naheliegend, denn die Herrnhuter Brüdergemeine, zu der Miertsching gehörte, war bereits seit 1733 im zu Dänemark gehörenden Grönland tätig, am Ausgangspunkt der „Nordwestpassage“. Von dem Herrnhuter David Cranz stammt die „Historie von Grönland“, das Standardwerk zur Geschichte von Grönland, das bereits 1767 in englischer Sprache erschienen und in Großbritannien wohlbekannt war.
David Cranz, Historie von Groenland
In Dänemark und Norwegen war das Interesse an der Nordwestpassage sicherlich nicht nur wegen der Geschichte der Wikinger und (später) das Walfangs groß. Ein wichtiger Faktor war auch, dass die Herrnhuter Brüdergemeine seit 1773 auch in Christiansfeld in Dänemark ansässig ist. Nach Miertschings Rückkehr von seiner fast fünfjährigen Arktisreise (mit einem kurzen Stopp in Grönland) kam besonders aus dieser Gemeine mehrfach die dringende Aufforderung, dass er dort über seine Erlebnisse berichten sollte. Da die Gemeine zusicherte, alle Kosten seiner Reise nach Christiansfeld und zurück zu tragen, und nachdem die Ältestenkonferenz in Herrnhut zugestimmt hatte, machte sich Miertsching im Juni 1855 dorthin auf den Weg. Wie aus einer kurzen Protokollnotiz hervorgeht, muss sein Vortrag in Christiansfeld sehr eindrucksvoll gewesen sein.
Übrigens begeht die Gemeine in Christiansfeld 2023 ihren 250. Geburtstag. Wegen seiner außergewöhnlichen Geschichte und Architektur gehört der Ort zum UNESCO-Weltkulturerbe – allein deshalb werden wir den Ort demnächst besuchen!
Die Brüderkirche in Christiansfeld auf einer dänischen Briefmarke
Nachdem Johann August Miertsching und seine Leidensgenossen die Investigator verlassen und die Rettungschiffe HMS Resolute und HMS Intrepid bei Dealy Island erreicht hatten, hofften alle, im Herbst wieder in Europa zu sein. Tatsächlich brach am 17. August 1853 das Eis auf, und die Schiffe trieben mit den Eisfeldern gen Osten; nur selten lagen offene Wasserflächen vor ihnen, die es erlaubten, zu segeln. Doch bald blieben die Temperaturen konstant unter Null, und am 10. September waren die Schiffe wieder festgefroren. „Von einem Tag zum andern war Miertschings Hoffnung vereitelt worden, noch im gleichen Jahr nach Hause zu kommen. Von Tag zu Tag wurde es kälter und das Eis immer dicker – die Schiffe froren endgültig ein“ (Zitat aus unserem Buch). Anders als bei Dealy Island waren sie nun weit vom Land entfernt, doch die Eisfelder, die die Schiffe gefangen hielten, bewegten sich mit den wechselnden Strömungen noch einige Wochen lang ostwärts.
Cape Cockburn, Zeichnung von Frederic William Beechey
Miertschings Tagebucheintrag vom 14. November 1853 – vor genau 169 Jahren: „Seit mehreren Tagen wurde bemerkt daß das Eis nun zum völligen still stehen gekommen ist; beide Schiffe befinden sich nach den angestellten Beobachtungen seit 3 Tagen auf einer und derselben Stelle, und diese wurde nun als unser Winterquartier bezeichnet.“ Sie waren jetzt etwa 60 Kilometer vom Cape Cockburn auf Bathurst Island entfernt. Seinen Namen erhielt das Kap zu Ehren des Vize-Admirals Sir George Cockburn (1788-1853) von Edward Parry auf seiner Reise zur Suche nach der Nordwestpassage 1819/20, bei der Parrys Schiffe bis nach Melville Island gelangt waren – viel weiter als jedes britische Schiff zuvor.
Vizeadmiral Sir George Cockburn, Gemälde von Henry William Beechey, Royal Museums Greenwich
Anlass für Miertschings Tagebucheintrag am 14.11. war der Tod von Leutnant Henry Hubert Sainsbury, gerade einmal 26 Jahre alt, der an diesem Tag seinen langen und schweren Leiden erlegen war. Miertsching hatte sich gemeinsam mit dem Assistenzarzt Henry Piers ganz besonders um den erkrankten Sainsbury gekümmert und in letzter Zeit nachts bei ihm gewacht. Tags darauf wurde sein Leichnam mit militärischen Ehren durch das Eis im Meer versenkt. Miertsching schrieb einen Spruch für ihn ins Tagebuch, der aus einem Gesangbuch der „Moravian Church“ (Herrnhuter Brüdergemeine) stammt, doch er ersetzte hier das Wort „earth (Erde) mit „Sea“ (Meer) :
To the Sea let these remains In hope committed be; Until the body, changed, obtains Blessed immortality.
Begräbnis im Eis – hier eine zeitgenössische Darstellung, die das (allerdings fiktive) Begräbnis von Sir John Franklin zeigen soll.
Auf Befehl des Flotten-Admirals Sir Edward Belchers wurden HMS Intrepid und HMS Resolute im Frühjahr 1854 aufgegeben und verlassen, und die Männer machten sich zu Fuß auf den Weg nach Beechey Island.
Verlassen von HMS Intrepid und HMS Resolute im Frühjahr 1854: die mit Segeln ausgerüsteten Lastschlitten werden in Bewegung gesetzt.
Am 21. Oktober 1850 zog Kapitän Robert McClure gemeinsam mit dem Navigator Stephen Court und sieben Matrosen entlang der Küste von Banks Island, an der die Investigator im Eis eingeschlossen war, nach Norden. Er wollte herausfinden, ob sich das Schiff in einem Wasserarm befand, der mit den arktischen Gewässern weiter im Norden verbunden war, oder ob es eine Bucht war, in der es festsaß.
Das Schiff war vom Südwesten her in die Prince of Wales Strait gesegelt und dort vom Eis eingeschlossen worden, doch anfangs wusste man nicht, dass es sich um eine Wasserstraße handelt
Der Morgen des 26. Oktober 1850 war
schön und wolkenlos. Kapitän McClure und seine Schlittenmannschaft
machten sich noch vor Sonnenaufgang auf den Weg, um von einem Hügel
in der Nähe einen freien Blick auf das umliegende Meer zu haben. Sie
stiegen bis 200m über dem Meeresspiegel auf und warteten dort auf
die Zunahme des Lichts.
Blick von Banks Island auf Melville Island – Zeichnung von S.G. Cresswell, 1852
Die aufsteigende Sonne eröffnete ihnen zunächst einen freien Blick auf Victoria Island, dessen Küste sich weit nach Osten zog, und dann auf die Nordostspitze von Banks Island von wo die Küste nach Nordwesten führte. Im Norden jedoch war nur noch Eis zu sehen, das den ganzen Viscount Melville Sound bedeckte. Wegen ihres hohen Standortes über dem Meeresspiegel und der freien Sicht nach Norden konnten sie weiteres Land zwischen Banks und Melville Island ausschließen. Sie hatten somit die Nordwest-Passage entdeckt!
Der zeitgenössische Kartenausschnitt zeigt die Prince of Wales Strait zwischen Baring (Banks) Island und Victoria Island; nördlich davon Melville Island
Während der Abwesenheit McClures hatte man bei einer Inspektion an Bord festgestellt, dass 700 Pfund eingekochtes Fleisch verdorben waren und dringend Frischfleisch benötigt wurde. Am 29.10. ging Miertsching deshalb mit zwei Offizieren und einem Matrosen an Land, um zu jagen. Was als „Herrenpartie“ gedacht war, endete als höchst gefährliche, aber überaus erfolgreiche Jagd auf ihnen zunächst unbekannte Tiere.
Die unbekannten Tiere waren Moschusochsen. Zeichnung von Miertsching
Hier ein Auszug aus unserem Buch: „Die Männer legten sich mit den Gewehren im Anschlag mit deutlichem Abstand zueinander flach auf den Schnee, während sich die unbekannten Tiere unentwegt auf sie zubewegten. »Wir sahen nun dass die Thiere, nicht ahnend was ihnen bevorstehe, immer näher kamen; hatten die Größe eines Rindes, furchtbare Hörner etwas krumm gebogen wie ein Ochse, den ganzen Körper mit langen Haren bedeckt, die bis auf den Schnee herunter reichten, so daß kaum die untern Theile der Füße sichtbar waren«, notierte Miertsching später.“
Als Kapitän McClure am 31.Oktober unter dramatischen Umständen, mehr tot als lebendig, die Investigator erreichte, war er zunächst gar nicht in der Lage, von seinem Erfolg zu berichten. Erst Stunden später kam – zusätzlich zur Begeisterung über die 1300 Pfund frisches Moschusochsenfleisch – allgemeine Freude über die Entdeckung der Nordwestpassage auf.
Das Grabmal McClures würdigt ihn als Entdecker der Nordwestpassage
Genau vor 170 Jahren, am 14. Oktober 1852, kehrte ein Schlittentrupp unter Leutnant Mecham zum Winterlager der Schiffe Resolute und Intrepid bei Dealy Island zurück. Mittels eines Lastschlittens, beflaggt mit dem Motto „Per mare, per terram, per glaciem“, hatten sie auf Melville Island ein Depot mit Versorgungsgütern und Lebensmitteln angelegt. Damit sollten im kommenden Frühjahr längere Erkundungsexpeditionen per Schlitten ermöglicht werden. Auf dem Rückweg hatte Mecham am 12. Oktober an einem markanten Sandsteinfelsen oberhalb von Winter Harbour haltgemacht: Parry’s Rock.
„Der große Sandsteinfelsen in Form einer langgestreckten Stumpfpyramide überragt das umliegende flache Land und ist schon aus größerer Entfernung erkennbar. Seinen Namen erhielt er wegen der tief eingeschnittenen Inschrift, die an Parrys Überwinterung erinnert: »His Britannic Majesty’s ships Hecla and Griper, Commander Parry and Lyddon, wintered in the adjacent harbour during the winter of 1819-20, A. Fisher« …“ (Zitat aus unserem Buch: Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – ein Lebensbild).
Mecham wollte gerade die über 30 Jahre alte Inschrift vom Aufenthalt Parrys mit den Namen und Daten der eigenen Expedition ergänzen, da rollte ihm ein Kupferzylinder vor die Füße. Der enthielt eine Nachricht von Kapitän McClure vom April, die über die Entdeckung der Nordwestpassage und den Verbleib seines Schiffes Investigator informierte, das 270 km südwestlich von hier im Eis der Mercy Bay auf Banks Island gefangen lag. Mechams Fund sollte eine Schicksalswende für die Männer auf der Investigator bedeuten, die schon zwei Winter im Eis der Arktis verbracht hatten – die ahnten davon jedoch nichts.
Resolute und Intrepid im Winterquartier. Zeichnung von George F. McDougall
Mecham eilte umgehend zurück zur Resolute, um Kapitän Kellet diese wichtige Nachricht zu überbringen. „Der einbrechende Winter machte es jedoch unmöglich, der Investigator noch im gleichen Jahr zur Hilfe zu kommen. Im März 1853 meldete sich Leutnant Pim freiwillig, um nach dem Schiff zu suchen. Mit einem von sieben Männern gezogenen Lastschlitten und einem Hundeschlittengespann machten er und der Schiffsarzt Dr. Domville sich am 10. des Monats auf den Weg. Extremes Wetter mit orkanartigen Schneestürmen verzögerte das Vorankommen des Trupps um viele Tage. Der Lastschlitten war dem mühseligen Weg über die „Hummocks“, die Presseishügel, nicht gewachsen und zerbrach. Bei eisiger Kälte beschloss Pim, den Rest des Weges nunmehr allein mit dem Hundegespann und nur zwei Männern zurückzulegen. Nach 28 Tagen waren sie gerade noch rechtzeitig eingetroffen …“(Zitat aus unserem Buch).
Leutnant Pim findet die Investigator. Buchillustration von 1877
Pims Ankunft bedeutete die Rettung für die meisten der inzwischen von Hunger und Krankheit gezeichneten, schwachen Männer auf der Investigator. Ihnen stand jedoch noch ein Gewaltmarsch über das zerklüftete Packeis nach Dealy Island zu den Schiffen Resolute und Intrepid bevor.
Die Schlittentrupps hatten mit den schwierigsten Bedingungen zu kämpfen, um über das Packeis zu kommen. Zeichnung von S.G. Cresswell
Johann August Miertsching schrieb im Tagebuch über den Teil der Mannschaft, der dort Tage nach ihm selbst eintraf: „Diesen traurigen Anblick, der sich hier uns darbot, werde ich in meinen Leben nicht vergessen. Auf jeden der 4 Schlitten lagen 2 Krancke festgebunden; andre ganz Entkräftete wurden von ihren etwas stärckeren Kameraden geführt; wieder andre hielten sich und lehnten an die Schlitten, und diese wurden von einer Mannschaft gezogen, wo mehrere ihrer Füße nicht mächtig alle 5 Minuten wieder hinfielen und von ihren Gefährten, dem Kapitain oder denen Officieren aufgerichtet werden mußten. Dieses Bild des Elendes erinnerte mich an die unglückliche Francklinsche Expedition …“ (Zitat aus unserem Buch). – Nicht auszudenken, was aus der Mannschaft der Investigator geworden wäre, wenn Mecham den Zylinder mit McClures Nachricht übersehen hätte!
Warum die Mannschaft der Investigator dann aber noch einen vierten Winter im Eis verbringen musste, kann man in unserem Buch im Kapitel „Ums Überleben“ nachlesen.