Bücher können die Welt nicht verändern – oder doch? Auf jeden Fall kann das Lesen Gedanken anregen. Im manchen Fällen führt das zu Aktivitäten – sogar solchen, die zum Schluss materiell, buchstäblich in Stein gemeißelt präsent sind, wie in diesem Fall: in Gröditz (bei Weißenberg) – sorbisch: Hrodźišćo – steht seit einigen Tagen ein großer Findling mit einer Gedenktafel in unmittelbarer Nähe des Geburtshauses des Sorben Johann August Miertsching. Dass sich unser Anliegen, mit unserem Buch Miertsching vor dem Vergessen zu bewahren, auch auf solch wunderbare Weise erfüllt – damit hatten wir nicht gerechnet.
Zu danken ist es dem Regionalverband der Domowina und engagierten Einwohner*innen von Gröditz. Zwar konnten wir bei der Einweihung nicht wie vorgesehen dabei sein, aber gute Freunde und Verwandte sorgten mit Fotos und kurzen Videos dafür, dass wir einen Eindruck von der Festveranstaltung bekamen, die an einem kalten Herbsttag stattfand. Weit über 100 Gäste waren zu dem noch mit der sorbischen Fahne in den Farben blau, rot und weiß verhüllten Gedenkstein gekommen. Der Enthüllung gingen Ansprachen seitens der Domowina, des Ortsvorstehers und des Bürgermeisters voraus; musikalisch wurde die Veranstaltung vom Chor Budyšin – auf den Bildern in sorbischer Tracht – gestaltet.
Der zweite Teil der Veranstaltung fand in der Gröditzer Pfarrscheune statt, mit einem Vortrag der Historikerin Dr. Lubina Mahling, die auch unser Grußwort verlas, über das Leben Miertschings.
Wie dieser – ca. 160 Jahre zuvor – war sie selbst ebenfalls als sorbisches Kind in Gröditz aufgewachsen und ist durch ihre Forschungen mit der sorbischen Kulturgeschichte bestens vertraut. Den nun nahezu 200 Anwesenden stellte sie Miertschings Gröditzer Kindheit im sorbischen Dorf, seine Zeit als junger Mann in Kleinwelka und die weiteren Lebensphasen, einschließlich seiner Erlebnisse in der Arktis und des Lebensabends wieder in Kleinwelka, einfühlsam und mit Überzeugungskraft vor.
Dass bei der Veranstaltung auch zwei Nachfahrinnen von Miertschings jüngster Schwester anwesend waren, hat wohl kaum jemand von den Anwesenden gewusst!
Es folgten weitere kurze Ansprachen, so vom sorbischen Landtagsabgeordneten Marko Schiemann und vom Bischof der Herrnhuter Brüdergemeine Theodor Clemens.
Wenige Tage nach der Veranstaltung waren wir in teils persönlichem Kontakt mit direkten Nachfahren Miertschings, die sich sehr über die Ehrung ihres Vorfahren gefreut haben.
Wir danken allen Freunden und Verwandten, die uns Bilder zur Verfügung stellten.
Auch in anderen Medien wurde berichtet, so etwa hier bei der Herrnhuter Brüdergemeine, oder der Beitrag vom 3. Oktober nachmittags hier, sowie in der Sächsischen Zeitung (für Abonnenten).
Eine Würdigung aus Anlass des 207. Geburtstags von Johann August Miertsching
Herbst 1850: der erste arktische Winter für die Crew von HMS Investigator hatte begonnen. Das nun fest im Eis der Prince-of-Wales-Strait eingeschlossene Schiff war als Winterquartier eingerichtet und fest mit Schneeblöcken umhüllt worden. Aufgespannte Segel über dem Deck boten Schutz gegen Wind und Schnee und Raum für Bewegung. Die Tage wurden nun deutlich kürzer, und bei klarem Wetter waren fast täglich Nordlichter zu sehen. Johann August Miertsching bezeichnete sie in seinem Tagebuch – obwohl er das bestimmt nicht in der Schule gelernt hatte – exakt mit ihrem lateinischen Namen: Aurora Borealis. Tagsüber beobachteten sie zuweilen Nebensonnen, »jeden Tag nachmittag zwei Stunden lang gar drei oder vier – ungefähr in dieser Gestalt:«
Das ist eine der wenigen Zeichnungen, die uns in Miertschings handschriftlichem Tagebuch überraschten. Sie zeigt nicht nur die beiden Nebensonnen dieser Halo-Erscheinung, sondern noch einer dritte unterhalb – ungewöhnlich, wahrscheinlich eine Reflexion auf der Eisfläche des Meeres.
Miertschings Tagebucheintragungen sind Zeugnisse seiner genauen Beobachtungsgabe; oft beschreibt er Situationen, Landschaften und Naturerscheinungen detailreich und in bildhafter Sprache. Das Tagebuch offenbart aber auch, dass er, der nur ein Dorfschule besucht und bestimmt nie Zeichenunterricht hatte, sogar über zeichnerische Talente verfügte. Ein Beispiel ist die Zeichnung von HMS Intrepid, das Schiff, auf dem er nach der Rettung der „Investigators“ fast ein Jahr lang lebte. Es ist eine der wenigen bildlichen Darstellungen dieses Schiffs, das seit 1854 in der Arktis verschollen ist.
Vielleicht hat Miertsching noch mehr gezeichnet? Nach der Rückkehr von der Arktisreise war er beim sächsischen König eingeladen: »Meine Bilder, welche er sich genau betrachtete, schienen ihn zu interessieren.« Acht Bilder von der Reise der Investigator, die der zweite Offiziers Samuel Cresswell angefertigt hatte, waren als Mappe im Druck erschienen, und Miertsching besaß eine dieser heute überaus seltenen Mappen.
Vermutlich hatte er dem König diese Mappe vorgelegt – oder waren es vielleicht doch eigene Zeichnungen? Es wird wohl ein Geheimnis bleiben – außer wenn jemand in der Oberlausitz oder anderswo, vielleicht in einer Kiste auf dem Dachboden, noch unbekannte Papiere aus Miertschings Nachlass entdecken sollte.
Die Überquerung des Atlantik ging zunächst zügig voran, doch vor der Küste Labradors stieß die „Harmony“ auf dichtes Treibeis und hatte zudem immer wieder mit starkem Nebel zu tun. Seit der Abreise aus London waren fast 6 Wochen vergangen, als Johann August Miertsching und seine Reisegefährten spät am Abend des 21. Juli 1844 in die von Inseln geschützten Gewässer vor Hoffenthal (Hopedale) segelten. Das war damals die südlichste von vier Herrnhuter Stationen an der entlegenen Küste Nordlabradors; weiter nördlich lagen Nain, Okak und Hebron.
„Die Küste ist felsig, ausgewaschen, mit vielen kleinen Buchten eingeschnitten und von unzähligen Felseneilanden umgeben. Das Innere des Landes besteht in einer öden, unbewohnbaren, gebirgigen Wildnis, welche mit großen Waldungen, Sümpfen und Seen angefüllt ist. Obgleich dieselbe einige Grade südlicher liegt als Grönland, ist die Kälte während des langen Winters doch heftiger.“ (1)
Als Miertsching am 22. Juli 1844 das Deck der Harmony betrat, lag vor ihm Hoffenthal im freundlichen Morgenlicht. Vor einem steilen, im oberen Bereich völlig kahlen Hügel, dessen Flanken an mehreren Stellen noch ausgedehnte Schneeflecken zeigten, standen das große Missionshaus, die Kirche und einige kleinere Gebäude auf felsigem Untergrund. Dahinter zog sich in einer von den steileren Hängen geschützten Delle ein Fichtenwäldchen den halben Berghang hinauf. Oben auf dem Gipfel stand eine Kanone, aus der nun ein Schuss abgefeuert wurde – das Signal für die in der Umgebung befindlichen Inuit, dass das Schiff gekommen war, mit dessen Ankunft sie noch nicht gerechnet hatten. (Auszug aus unserem Buch) (2)
Die Eisverhältnisse in der Labradorsee sind trotz der inzwischen verbesserten Navigationstechniken auch heute unberechenbar, und die globale Klimakrise verschärft dies noch. Als wir auf Miertschings Spuren Labrador erreichten, war es Anfang Juli, zwei Wochen früher im Jahr als damals Miertsching. … Wir hatten Glück: Das erste Treibeis tauchte erst nördlich von Okak auf. (Auszug aus unserem Buch) (2)
Hoffenthal – heute Hopedale – war für Miertsching nur eine Zwischenstation. Über Nain reiste er weiter nach Okak, wo er die nächsten fünf Jahre in der Brüdermission tätig war, das Leben der Inuit kennen und schätzen lernte und Erfahrungen erwarb, die später für die Arktis-Expedition mit HMS Investigator lebenswichtig für das Überleben der Crew wurden.
Übrigens kam Jahrzehnte später, 1879, Miertschings Tochter Marie mit ihrem Ehemann Hermann Theodor Jannasch nach Hopedale, um dort und später auch in anderen Missionsstationen in Labrador zu wirken.
(1) Kölbing, Friedrich Ludwig, Mission der evangelischen Brüder in Labrador, 1831, S.4
(2) Mechtild Opel, Wolfgang Opel: Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching, Ein Lebensbild, Berlin 2022, S. 51
Johann August Miertschings Leistung für das Überleben der „Investigators“
Vier Winter (1850-1854) verbrachte die Mannschaft von HMS Investigator im Eis der Hocharktis auf der Suche nach der verschollenen Franklin-Expedition, großenteils unter unsäglichen Strapazen und Leiden. Vor dem schon fast sicheren Tod konnten sie jedoch gerettet werden, und daran hatte ein Mann einen wichtigen Anteil: Bedford Clapperton Pim, damals Leutnant auf HMS Resolute. Mit dem Hundeschlitten hatte er im Frühjahr 1853 mehr als 300 km übers Packeis zurückgelegt, um schließlich die festgefrorene Investigator zu finden. So konnten die Männer den langen Marsch zum rettenden Schiff antreten, von dessen Existenz sie zuvor nichts gewusst hatten. Die Investigator wurde in der Mercy Bay zurückgelassen, auf deren Grund das Wrack noch heute liegt
Noch fast 15 Jahre später, damals auf Reisen in Nicaragua, erinnerte sich Leutnant Pim an Johann August Miertsching: „… of Mr. Miertsching it is not too much to say that he was the most useful man on board, for not only did he set an excellent moral example to those around him, but, by his knowledge of mechanical arts, he proved of the greatest value to his shipmates, especially as a bootmaker, and besides taught both officers and men other useful Arctic accomplishments, without which they would have indeed fared badly.“(1)
Übersetzung: „Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Mr. Miertsching der nützlichste Mann an Bord war; denn er war nicht nur ein hervorragendes moralisches Beispiel für die Menschen um ihn herum, sondern erwies sich durch sein Wissen über die Handwerkskünste auch von größtem Wert für seine Schiffskameraden, insbesondere als Schuhmacher, und darüber hinaus brachte er sowohl den Offiziere als auch der Mannschaft andere nützliche arktische Fertigkeiten bei, ohne die es ihnen wirklich schlecht ergangen wäre.“
Auch der Kapitän von HMS Investigator, Robert McClure, sprach in seinen Berichten an die Admiralität stets voller Anerkennung von den Leistungen Miertschings; mehrfach lobte er den „invaluable interpreter“ und war dankbar für das Urteilsvermögen der Herrnhuter Missionsleitung, die genau den richtigen Mann für den Auftrag gesendet hätte. Vor allem waren es Miertschings umfangreichen Kenntnisse sowohl der Sprache als auch der Gewohnheiten und Mentalität der Inuit, die überhaupt erst eine friedliche Verständigung möglich machten. Darüber hinaus konnte der Kapitän mithilfe von Miertsching Erkundigungen von den Inuit einziehen und erlangte so wichtige Informationen, u.a. was den weiteren Verlauf der Buchten, Inseln etc., die Schiffbarkeit der küstennahen Gewässer und die Eisverhältnisse betraf. (2)
Die Schriftstellerin Jane Elgee – die Mutter von Oscar Wilde – veröffentlichte 1854 im Dublin University Magazin ein literarisches Porträt ihres Cousins Kapitän McClure, in dem sie detailliert die Reise der Investigator und die erfolgreiche Entdeckung der Nordwestpassage beschrieb. Wir können sicher sein, dass ihr Beitrag großenteils auf Informationen aus erster Hand – wohl von ihrem Cousin persönlich – beruhte. Sie schrieb, dass Miertsching alle Dialekte der Inuit perfekt beherrschte – eine Auffassung, die Miertsching in seiner Bescheidenheit wohl sofort von sich gewiesen hätte, denn er fühlte sich sicherlich weit von jeglicher Sprachperfektion entfernt. Doch das, was er bei all den Gesprächen leistete, nötigte dem Kapitän offenbar höchsten Respekt ab. (3)
Das war aber nicht das Einzige. Die unsäglichen Strapazen der Reise sorgten auch bei Miertsching für Zweifel, Mutlosigkeit und Krisen, doch er fand – wohl auch mit Hilfe seines Glaubens – immer wieder zurück zu Optimismus, Selbstvertrauen und einer mentalen Stärke, die auch dem Kapitän durch kritische Zeiten half und manchmal sogar dessen Jähzorn gegenüber anderen zügelte.
Auch Mitgliedern der Mannschaft konnte Miertsching mit Zuspruch, Trost und sein eigenes Beispiel durch die schlimmsten Zeiten von Hunger, Kälte und Krankheit helfen und nicht nur Hoffnungslosigkeit und Agonie bekämpfen, sondern Zuversicht und solidarisches Handeln befördern. Die Kapitäne der Rettungsschiffe lobten später das Verhalten der „Investigators“, das sich wohl positiv von dem der eigenen Mannschaften abhob.
Nicht zu unterschätzen sind die „arktischen Erfahrungen“, die Miertsching vor der Schiffsreise mit den Inuit in Labrador gesammelt hatte. Das begann damit, dass er als einer der wenigen an Bord bereits das Meereis kannte, insbesondere Packeis (4). Dazu kamen Kenntnisse der arktischen Flora und Fauna. Als viele aus der Mannschaft an Hunger und Skorbut litten, konnte Miertsching dies etwas lindern, als er vitaminreiche essbare Pflanzen fand – wahrscheinlich Löffelkraut und/oder Krauser Ampfer.
Dazu kamen seine Erfahrungen beim Aufspüren von Wild unter arktischen Verhältnissen, die ihn zu einem der besten Jäger der Expedition machten, die dadurch ab und zu mit frischem Fleisch versorgt werden konnte. Das Wissen darum, dass man durchaus den Mageninhalt eines Karibus – für viele Inuit seinerzeit eine Delikatesse – essen und das Blut eines frisch erlegten Tieres trinken sollte, bewahrte ihn wahrscheinlich vor Skorbut. Bei den extremen Hungerbedingungen konnte er wohl den einen oder anderen seiner britischen Leidensgefährten von diesem Vorteil überzeugen.
Nicht nur sein Kapitän McClure war voll des Lobes über Miertsching. Als er mit Leutnant Cresswell und den Schwachen und Kranken der Mannschaft nach tagelangem Gewaltmarsch übers Eis schließlich bei den Rettungsschiffen ankam, lud ihn Kapitän Kellett, der von McClure über ihn gehört hatte, umgehend in seine Kabine auf HMS Resolute ein. In den ersten Tagen (bis eine eigene Kabine für ihn eingerichtet wurde) durfte Miertsching hier wohnen und im Bett des Kapitäns schlafen, der ihn überdies mit frischer Wäsche aus seinem eigenen Bestand ausstattete. Darin drückte sich seine besondere Wertschätzung aus.
Zur Frischfleischversorgung für die an Skorbut Leidenden wurde Miertsching in den folgenden Wochen und Monaten immer wieder zur Jagd abkommandiert. Auch für Kapitän Kellett und die Offiziere der Rettungsschiffe war er ein begehrter Jagdgefährte. So beschrieb Leutnant McDougall, wie er Anfang September 1853 gemeinsam mit Miertsching, Haswell und Mecham eine Herde Moschusochsen verfolgte, was durch die verwendete Taktik äußerst erfolgreich war und tausende Kilogramm Frischfleisch für die Mannschaften lieferte. (5)
Für alle seine Verdienste auf der Expedition wurde Miertsching, wie einigen seiner Mitstreiter, 1857 im Auftrag der britischen Königin Victoria die „Arktische Medaille“ verliehen.
Anmerkungen:
(1) Pim, Bedford; Seemann, Berthold: Dottings on the Roadside, London 1869, p.275
(2) McClure: The Arctic dispatches: containing an account of the discovery of the North-West Passage, London 1854, p. 49, p.56, p.70 et al.
(3) Jane Elgee: Our Portrait Gallery. Captain M’Clure, R.N., in: Dublin University Magazine 1854, p. 348
Bei einem Bummel durch die Galerien von Yorkville, Toronto, vor über 20 Jahren fiel mir eine Grafik auf, die mich unmittelbar beeindruckte. Sie zeigte einen ruhenden Büffel mit mächtigem Buckel und gewaltigen Hörnern. Auffällig waren die Farben des Körpers, die mich an die Herbstfärbung der kanadischen Landschaften erinnerten.
Dem Galeristen fiel mein Interesse auf, und er nannte den Namen des Künstlers: Benjamin Chee Chee, ein Ojibwa aus Ontario. Informationsmaterial oder gar einen Katalog gab es leider nicht, doch notierte ich mir den Namen.
Benjamin Chee Chee wurde am 26. März 1944 in Temagami, Ontario, im Haus der Freundin seiner Mutter geboren. Diese, Angele Egwuna Belaney, war die erste Frau des berühmten Grey Owl, der durch den Film von Richard Attenborough auch in Deutschland bekannt wurde. Kurz vor seinem ersten Geburtstag starb der Vater. Es begann eine schwierige Zeit, da seine Mutter ihn oft anderen zur Betreuung übergeben musste. Schon mit elf Jahren begann er Alkohol zu trinken und mit zwölf „borgte“ er sich mit anderen ein Auto, um durch die Gegend zu fahren. Letztendlich endete er in der von der katholischen Kirche betriebenen St. Joseph’s Training School in Alfred, Ontario, wo er wie viele andere indigene Kinder auch körperlich und sexuell missbraucht wurde. Nachdem er die Schule verlassen hatte, lebte er für kurze Zeit wieder mit seiner Mutter zusammen, ging aber bald seine eigenen Wege. Mit 21 zog er nach Montreal, wo er dank seiner zeichnerischen Talente Arbeit als Gebrauchsgrafiker fand, ehe er ab 1972 versuchte, sich als Künstler zu etablieren. (1)
Zu seinen traditionellen Grafiken gehörten Ansichten von Ottawa, wo er ab 1973 lebte. Im Gegensatz dazu entstanden aber auch abstrakte Farbkompositionen. Regelrecht berühmt wurde Benjamin Chee Chee für seine vielen Zeichnungen und Grafiken, die die Schönheit der Kanada-Gänse feiern. Manche davon werden seit Jahren in Museen-Shops, Touristen- und Andenkenläden auf Postkarten, Taschen und auf Tassen vermarktet. Schwieriger ist es, originale Werke zu sehen. Gute Gelegenheit gibt es im Whetung Ojibwa Centre in Curve Lake, in der Temiskaming Art Gallery in Temiskaming Shores, in der Thunder Bay Art Gallery (alle Ontario), oder in den Galerien mit indigener Kunst in den großen Städten Kanadas.
In den 1970er Jahren wurden Arbeiten von Chee Chee zunehmend in Ausstellungen neben denen von Norval Morrisseau, dem „Picasso des Nordens“, Carl Ray und anderen berühmten indigenen Künstlern gezeigt. Bei einer Personalausstellung in Victoria, BC, wurden alle seine 45 ausgestellten Arbeiten schon am ersten Tag verkauft. In der Kunstwelt wurde er nun allseits als eigenständiger Künstler akzeptiert.
Trotz aller Erfolge wurde er aber immer wieder von seiner unglücklichen Vergangenheit eingeholt. Alkohol, Tabletten und gelegentliche Gewaltausbrüche gehörten wie seine außergewöhnlichen künstlerischen Talente zu seinem Leben. Als er 1976 endlich wieder in Kontakt zu seiner Mutter kam, schien ein Leben als anerkannter Künstler, der auch mit seinem Alkoholkonsum umgehen könnte, möglich zu sein. Es kam jedoch anders. Bei einem Abend in einem Restaurant geriet er in Streit mit dem Personal, das sich nicht zu helfen wusste und die Polizei rief. Diese schloss ihn in einer leeren Zelle zur Ausnüchterung ein. Bei einem Kontrollgang fand man den scheinbar leblosen Chee Chee. Er hatte sich mit seinem Hemd stranguliert. Drei Tage später, am 14.3.1977, starb er im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Was für ein sinnloser Tod!
Dass der Sorbe Johann August Miertsching an der Entdeckung der Nordwest-Passage in der kanadischen Arktis und an der Suche nach der verschwundenen Franklin-Expedition beteiligt war, ist bekannt. Weniger bekannt ist jedoch, dass zwei weitere Männer aus Deutschland mit der Suche nach den 129 vermissten Seeleuten zu tun hatten, wenn auch nur indirekt.
Berthold Seemann (28.2.1825-10.10.1871), ein in Hannover geborener Botaniker und Naturforscher, war unter Kapitän Henry Kellett an Bord des britischen HMS Herald an der Erforschung der Küsten entlang der Beringstraße beteiligt. Er schrieb darüber ein zweibändiges Reisewerk (1).
Der sorbische Grönland-Missionar der Herrnhuter Brüdergemeine Matthäus Warmow / Matej Waŕmo (18.1.1818-29.3.1893) aus dem Niederlausitzer Werben bei Cottbus ist nahezu unbekannt. Wie auch Miertsching wuchs er in einem sorbischen Umfeld auf, lernte später Deutsch und während seines Missionsdienstes die grönländische Variante der Sprache der Inuit, Kalaallisut. Erst in Vorbereitung auf eine Rekognoszierungsreise nach Baffin Island im heutigen Kanada lernte er Englisch (2).
Seemann zog es bereits im Alter von 19 Jahren nach England, um in den Royal Botanic Kew Gardens Botanik zu studieren. Schon zwei Jahre später wurde er als Teilnehmer der Expedition von HMS Herald (1845-1851) unter Kapitän Kellett berufen. 1848 schloss sich das Schiff dann der Suche nach der vermissten Franklin-Expedition an.
Es patrouillierte – wie auch HMS Plover – in den Gewässern zwischen Alaska und Sibirien, ohne allerdings auf Spuren von Franklins Schiffen zu stoßen.
Allerdings traf die Herald im Sommer 1850 auf HMS Investigator unter Kapitän Robert McClure – mit Miertsching an Bord – bevor dieses Schiff auf der Suche nach Franklin weiter in die Arktis fuhr. Ob die beiden Teilnehmer aus Deutschland, Seemann und Miertsching, bei diesem Zusammentreffen ins Gespräch kamen, ist nicht überliefert. In ihren Büchern über die jeweiligen Expeditionen erwähnen sie einander jedenfalls nicht (1, 3).
Von Matthäus Warmow ist bisher kein Porträt bekannt. Man könnte sich ihn in der traditionellen Kleidung der grönländischen Inuit mit fellbesetztem Anorak und Seehundstiefeln vorstellen, der sich, wie auch Miertsching, in enger Zusammenarbeit mit den Inuit deren Sprache, Jagd- und Überlebenstechniken in der Arktis angeeignet hatte. Ab 1846 war er für zehn Jahre zunächst in Lichtenau (heute Alluitsoq) im Süden und dann in Lichtenfels (heute Akunnaat) im Südwesten Grönlands eingesetzt.
Nach einem Heimaturlaub wurde er nach England entsandt, um dort in Fulneck im Schnellkurs Englisch zu lernen und Kapitän William Penny nach Baffin Island zu begleiten. Warmows Auftrag war, Möglichkeiten für die Einrichtung einer Missionsstation erkunden.
Pennys Schiffe „Lady Franklin“ und „Sophia“ lagen Ende Juni 1857 in Aberdeen, Schottland, zur Abfahrt bereit. Da zur gleichen Zeit Kapitän Francis Leopold McClintock mit der von Lady Franklin finanzierten „Fox“ zu einer weiteren Suchexpedition nach Franklin aufbrechen sollte, verwundert es nicht, dass Jane Lady Franklin mit der Nichte ihres Mannes, Sophia Cracroft, vor Ort war, um die Fox zu verabschieden.
Lady Franklin war überzeugt, dass ein sprachmächtiger Missionar der Herrnhuter Brüdergemeine als Dolmetscher für die Suchexpedition bestens geeignet wäre. Zuvor hatte sie bereits versucht, Miertsching zu gewinnen, mit McClintock zu fahren. Doch trotz eines lukrativen Angebots hatte Miertsching nach seiner fünfjährigen Arktis-Odyssee abgelehnt, sich erneut dorthin zu begeben. Nachdem Lady Franklin Matthäus Warmow kennengelernt hatte, bedauerte sie sehr, dass dieser unabkömmlich war. Warmow berichtete nach Herrnhut:
„Lady Franklin, die wieder eine Expedition aussendet, und die seit 8 Tagen hier ist, bedauert sehr, daß ich nicht mit ihrem Schiff gehen kann. Ich war fast jeden Tag bei ihr und hatte ihr viel von der Grönländischen Sprache zu erklären und Fragen und Antworten im Grönländischem aufzusetzen. Sie wünscht, daß ich mich auch in der Region, in die ich komme, nach den früheren Expeditionen erkundigen und ihr im Herbst Nachrichten senden soll. Der Capitän von dem Schiff, welches Fox heißt und auch heute ausgehen will, hatte ebenfalls viele Fragen an mich. … Lady Franklin schätzt unsere Kirche und spricht sich für die Hülfe, die wir ihr geleistet haben, sehr dankbar aus …“ (4).
Warmows einjähriger Aufenthalt im Cumberland Sound von Baffin Island brachte nicht die erhofften Ergebnisse. Nach seiner Einschätzung war der Einfluss der dort aktiven Walfänger kontraproduktiv für eine erfolgreiche Missionierung der Inuit. Über die vermisste Franklin-Expedition hatte er nichts in Erfahrung bringen können.
Zurück in Herrnhut, heiratete er 1862 und wurde erneut zur Mission nach Grönland entsandt, wo er bis 1883 (inzwischen mit einer zweiten Ehefrau, die erste war gleich nach der Ankunft verstorben) tätig war. 1897 starb seine Frau in Herrnhut und Warmow zog nach Kleinwelka, wo er am 29.3.1898 achtzigjährig starb. Sein Grab auf dem dortigen Gottesacker haben wir infolge der Verwitterung der Grabsteine nicht finden können.
Quellen:
(1) Berthold Seemann, Narrative of the voyage of H.M.S. Herald and three cruises to the arctic regions in search of Sir John Franklin. 2 Bände, London 1852
(2) Lubina Mahling: Der Grönlandmissionar Matthäus Warmow / Matej Waŕmo aus Werben, Serbska Pratyja, Domowina-Verlag Bautzen, 2023
(3) Johann August Miertsching: Reise-Tagebuch des Missionars Johann August Miertsching, welcher als Dolmetscher die Nordpol-Expedition zur Aufsuchung Sir John Franklins auf dem Schiffe Investigator begleitete. In den Jahren 1850 bis 1854, Verlag der Unitäts-Buchhandlung Leipzig, Gnadau 1855
(4) Missionsblatt der Brüdergemeine, Nr.8, August 1857 S. 131
Bei einer Reise von St. Johns auf Neufundland nach Kuujjuaq in Québec auf dem russischen Expeditions-Kreuzfahrtschiff „Lyubov Orlova“ hatten wir Gelegenheit, die Labrador-Halbinsel zu umrunden. Neben den alles überragenden Naturerlebnissen faszinierte uns besonders der Inuk Tivi Etok – wohl die interessanteste Persönlichkeit an Bord des bereits etwas in die Jahre gekommenen Schiffes.
Er war uns erst im zweiten Teil der Fahrt aufgefallen, als er und sein Begleiter sich häufig ganz vorn an der Reling des Oberdecks aufhielten. Zwei rote Klappstühle mit dem Ahornblatt auf weißem Grund standen dort bereit, die, soweit wir das beobachteten, nie von anderen Passagieren benutzt wurden.
Den Namen des älteren Inuk mit kräftiger Statur und kurzgeschorenem weißen Haupthaar erfuhren wir erst während einer Gesprächsrunde, die von seinem jüngerem Begleiter, dem Inuk George Berthe, geleitet und übersetzt wurde – denn Tivi Etok selbst sprach nur Inuktitut.
So erfuhren wir, dass Tivi, geboren 1929, zu den lange halbnomadisch lebenden Inuit in Nordlabrador gehört. Je nach Jahreszeit wechselten sie zwischen der Ungava Bay im Westen und der Atlantikküste im Osten. Von seinen Eltern erlernten er und seine Geschwister das Überleben in der Wildnis. Sie jagten Robben, Walrosse und Wale, Karibus, Schwarz- und Eisbären, um ihre Familien zu ernähren. Was sonst noch benötigt wurde, erwarben sie im Austausch gegen Felle, Fisch und Fleisch von Händlern oder Missionaren.
Nordlabrador wird von den Torngat Mountains, den sogenannten Geisterbergen, geprägt: Hohe Berge mit Gletschern umrahmen tiefe Täler und ausgedehnte Fjorde, vor den steilen Ufern liegen unzählige kleine und größere Inseln. Die Gewässer sind bis in den Sommer hinein gefroren und die Berghänge lange schneebedeckt.
Die schönsten Fjorde sind der Saglek- und der Nachvak- Fjord; sie gehören zum einstigen Wohn- und Jagdgebiet Tivi Etoks. Wir befuhren also mit ihm seine heimatlichen Gewässer. Die beiden Inuit beobachteten aufmerksam die Gegend, mit bloßem Auge wie mit dem Fernglas, und erkannten lange vor uns Laien, wenn gelegentlich Schwarz- und Eisbären auszumachen oder bei Landgängen Spuren von Karibus und Wölfen zu sehen waren.
Die Welt der „Tongait“ (Inuktitut für „Geister“), war zumindest für den jungen Tivi eine Realität, die Einfluss auf Jagderfolge – oder aber Misserfolge – und damit das Überleben der Inuit haben konnte. So war es nicht ungewöhnlich, dass der junge Jäger im Oktober 1943 bei einem Streifzug an der Martin Bay im äußersten Nordosten Labradors meinte, Tongait zu sehen, als er im Wasser ein senkrechtes Rohr beobachtete, unter dem kurz darauf ein dunkler Rumpf auftauchte, auf dem seltsame Lebewesen herumliefen. Er bekam Angst und versteckte sich, in der Folge vermied er diese Gegend.
Erst viele Jahre später wurde klar, dass Tivi Etok ein deutsches U-Boot beobachtet hatte, dessen Mannschaft an Land eine automatische Wetterstation installierte. Dieser Fakt wurde in Kanada erst 1981 bekannt, nach Recherchen des deutschen Ingenieurs Franz Selinger.
Das Leben Tivi Etoks war über viele Jahre lang von der Jagd bestimmt. Das änderte sich ca. 1960 Kanadische Bürokraten hatten aus angeblichen Sicherheitsgründen beschlossen, dass Beamten der RCMP (Polizei) sämtliche Schlittenhunde der Inuit erschießen sollten. Damit wurde jedoch den meisten Jägern und ihren Familien die Lebensgrundlage entzogen, und sie waren gezwungen, permanent in Siedlungen zu leben.
Tivi Etok, der schon als Kind gern gezeichnet hatte, beschloss, seinen Lebensunterhalt zukünftig mit Kunst zu verdienen. Der überaus talentierte Jäger wurde schnell zu einem bekannten Künstler, der 1975 als erster Inuk überhaupt eine Personalausstellung mit Katalog erhielt. Inzwischen als Inuit-Elder hochgeachtet, hatte er weitere Herausforderungen zu meistern, die das Leben in der kanadischen Arktis auch für einen bekannten Inuk mit sich bringen.
2007 erschien die Biografie „Die Welt des Tivi Etok“ von Jobie Weetaluktuk (Inuk-Filmemacher) und Robyn Bryant, die eine Einführung in das Leben und die Kunst Tivi Etoks gibt. Nur wenige Exemplare davon waren in einem Laden in Kuujjuaq verfügbar; die glücklichen Erwerber ließen sie vor der Abreise von Tivi signieren.
2022 wurde dem damals 94jährigem Künstler dann eine besondere Ehre zuteil. Er wurde in den renommierten „Ordre des Arts et des Lettres“ von Québec aufgenommen, zu dessen Mitgliedern u.a. Leonard Cohen und Celine Dion gehören.
Vor 91 Jahren, am 21. November 1932, schrieb der kommunistische Arzt und Schriftsteller jüdischer Herkunft Dr. Friedrich Wolf in einem Brief an seine Frau: „… mit Fanck und Udet war ich nochmals zusammen. Die Kerle haben herrliche Sachen da in Grönland gedreht …“
Dr. Arnold Fanck, ein damals sehr bekannter Filmregisseur, hatte den Kontakt zu Wolf gesucht, weil dieser ihn bei der Endfassung des Drehbuches für den Film SOS Eisberg unterstützen sollte, denn die amerikanischen Auftraggeber waren mit dem bisherigen Stand unzufrieden. Wolfs letzte Arbeiten, besonders aber das Hörspiel „SOS … rao rao … Foyn – »Krassin rettet Italia«“ hatte damals für Furore gesorgt.
Wolf war von dem in Grönland gedrehtem Material so beeindruckt, dass er unter dem Pseudonym „Christian Baetz“ den von Fanck angebotenen lukrativen Vertrag unterschrieb. Produziert wurde das Projekt von Universal Pictures, einem von dem ausgewanderten deutsch-jüdischen Filmproduzenten Carl Laemmle Sr. gegründeten und inzwischen überaus erfolgreichem Studio in Hollywood. Partner für Fanck und damit auch für Wolf war der Produzent Paul Kohner, ebenfalls jüdischer Herkunft wie übrigens auch der Komponist der Filmmusik, Paul Dessau. Man bedenke, dass die Filmproduktion in den letzten Monaten der Weimarer Republik stattfand!
Am 27.12.32 übergaben Fanck und Wolf die Endfassung des Drehbuchs an Kohner. Nur wenige Wochen später, gleich nach der Machtergreifung der Nazis, emigrierten Wolf und Dessau.
Der Dreh in Grönland im Sommer 1932 durfte übrigens nur stattfinden, weil Fanck mit Knud Rasmussen einen grönländischen Unterstützer und Garant der Seriosität des Vorhabens gefunden hatte und seiner Reise den Anstrich einer Expedition gab. Dafür engagierte er auch die beiden Teilnehmer der Grönland-Expedition Alfred Wegeners von 1930, Dr. Fritz Loewe und Dr. Ernst Sorge, die hier ihre wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzten.
Zur gleichen Zeit hielt sich der bekannte amerikanische Maler Rockwell Kent mit seiner Frau France in Igdlorssuit, heute Illorsuit, auf. Udet hatte bei Erkundungsflügen die umgebende Bucht und einmündende Fjorde als für die Dreharbeiten Fancks geeignet befunden und richtete den Strand von Illorsuit als Basis für seine Flugzeuge ein. Die eigentlichen Drehorte waren etwa 50 km entfernt in Nuugaatsiaq, wo Fancks Drehteam seine Basis hatte, und in Nuliarfik auf Karrat Island.
Rockwell Kent, mit Knud Rasmussen befreundet, beobachtete das Geschehen und die durch die Dreharbeiten verursachte Unruhe mit gemischten Gefühlen, wie er in seinem Grönland-Tagebuch erzählte.
Vielleicht war es auch Ärger über seinen Freund Rasmussen, der die Dreharbeiten in Nuugaatsiaq unterstützte, aber ihn und seine Frau nicht besuchte, obwohl das mit Udets Hilfe leicht möglich gewesen wäre. Was zu dieser offensichtlichen Entfremdung der beiden geführt hatte, ist bis heute ungeklärt. Für Rockwell Kent gehörten seine insgesamt drei Aufenthalte in Grönland jedenfalls mit zu seiner produktivsten Zeit als Maler.
Während der Dreharbeiten kam es vermutlich auch zu ersten Missstimmungen unter den Teilnehmern, da die Hauptdarstellerin Leni Riefenstahl kurz vor der Abreise nach Grönland zur Hitler-Verehrerin mutiert war und in ihrem Zelt ein Bild von diesem aufgehängt hatte. Nach der Wahl Hitlers wurde Dr. Sorge ein eifriger Nazi, Mitglied der NSDAP und denunzierte seinen jüdischen Kollegen Dr. Fritz Loewe, der daraufhin interniert wurde und nach seiner Entlassung gerade noch rechtzeitig nach England und später nach Australien emigrieren konnte.
Der Film wurde nach Änderungen unter Protest von Fanck am 30. August in Berlin uraufgeführt. Mit Entsetzen registrierten Anwesende dort die den Hitlergruß zeigende Riefenstahl, deren weiterer Weg damit vorgezeichnet war. Fancks Karriere war im Wesentlichen beendet; die Udets endete später mit Selbstmord.
Dr. Sorge starb bald nach dem 2. Weltkrieg. Dr. Loewe lebte als erfolgreicher Wissenschaftler bis zu seinem Tod 1974 in Australien. Rockwell Kent hatte in einem Brief an Loewe dessen Rettung aus Nazi-Deutschland begrüßt; mithilfe seiner Kontakte half er dem ebenfalls emigrierten Fotografen des Filmsets, Ferdinand Vogel, beim Start seines Studios in den USA. Sowohl Laemmle als auch Kohner unterstützten von Hollywood aus die Rettung deutscher Juden.
Der Film SOS Eisberg wurde infolge der politischen Ereignisse von 1933-45 nahezu vergessen, bis ein schrecklicher Tsunami am 17. Juni 2017 durch den Karrat Fjord tobte, in dessen Folge die beiden Ortschaften Illorsuit und Nuugaatsiaq aufgegeben werden mussten. Übrigens fand ein ähnliches Ereignis auch während der Dreharbeiten statt und ist Bestandteil des Films.
Ein Filmteam, das zunächst eng zusammen arbeitete – und danach so verschiedene, so konträre Lebenswege. Was mag die Zukunft uns und heutigen Filmteams bringen?
Über diese Novelle schrieb Thomas Mann einst, sie sei eine „Verbindung von Menschentragik und wildem Naturgeheimnis, etwas Dunkles und Schweres an Meeresgröße und -mystik“, das „die Novelle, wie er sie verstand, als epische Schwester des Dramas auf einen seither nicht wieder erreichten Gipfel führte“ (zitiert nach der Textausgabe „Der Schimmelreiter“ in Reclams Universal-Bibliothek).
Für mich bleibt diese spannende Novelle zeitlos und zeigt den Beginn der modernen Industrialisierung. Die Hauptperson Hauke Haien steht im Widerstreit zum Aberglauben der Dorfbevölkerung und ihren rückwärtsgewandten Ideen, was der Autor dramaturgisch vorantreibt und zuspitzt. Mein Zyklus zeigt mit Storms Schimmelreiter, wie der Mensch sich selbst abschafft. Die Hauptfiguren im Roman sind dem Untergang geweiht, nur der Damm steht als Zeichen und Mahnung. Auch wenn diese Geschichte im Norden Deutschland angesiedelt ist, betrifft sie uns alle!
Meine Erinnerungen reichen weit zurück an meine Schulzeit, in die zehnte Klasse, als wir den Schimmelreiter behandelten. Die dramatische Szene, als Hauke Haien auf dem Schimmel am Uferdamm mit „Wutgebrüll“ entlang des Meeres ritt, prägte sich tief in mein Gedächtnis ein – bis heute. Interessanterweise wurde zu Zeiten des Kalten Krieges „Der Schimmelreiter“ in West- wie in Ostdeutschland in der Schule behandelt.
Für mich bleibt diese Novelle einzigartig und regte mich zum Illustrieren an. Es entstanden neunzehn Arbeiten in expressiver Form: der malerische Zyklus „Der Schimmelreiter“ nach Theodor Storm (Technik: Collagen, Pastell, Leimfarben; Konsumwerbepapier 50 x 65 cm).
Das Meer frisst und frisst Land, und das seit menschlichem Gedenken. Über Hunderte von Jahren ringt der Mensch dem Meer Boden ab und baut Deiche, um sich vor den Sturmfluten zu schützen. Anderseits heizt er künstlich das Klima auf, um seinen Komfort ständig zu modernisieren.
Meinen Maluntergrund für den Zyklus bilden Werbeprospekte, mit denen wir alltäglich zugeschüttet werden. Tausende Dinge, die Frau/Mann nicht brauchen, die aber als Rauschen im Hintergrund existent sind. Die Kaufkraft wird ins Unendliche angekurbelt, ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt. Mit unserer Sesshaftigkeit und Domestikation hat sich eine Spirale gebildet, eine Überproduktion, der wir nicht mehr Herr werden, und wir ersticken im Werbemüll.
Auf meiner Webseite www.ullrich-wannhoff.de erfahren Sie mehr über meine vielseitigen Tätigkeiten und Ausstellungen, die mich von Dresden bis nach New York brachten.
Aus Anlass des Geburtstags von Johann August Miertsching
Sie glaubten sich allein und isoliert in der Einöde der arktischen Eismeers – und ahnten nicht, dass ganz nahe Europäer vorbei ruderten, die davon ebenfalls nichts wussten und sich wohl genauso allein und isoliert fühlten. Es war lange bevor es Funkgeräte oder gar Satellitennavigation gab; Schiffsbesatzungen „sprachen“ mittels Flaggensignalen miteinander – falls man denn Sichtkontakt hatte. Vor Alaska hatte die Crew der Bark HMS Investigator letztmalig Ende Juli 1850 zwei dort stationierte Schiffe der Royal Navy – HMS Plover bzw. HMS Herald – kontaktiert.
Ab August aber war die Besatzung der Investigator ganz allein und auf sich gestellt im Polarmeer unterwegs. Vom dichten Packeis weiter nördlich gezwungen, immer in Küstennähe weiter in Richtung Osten zu segeln, erreichten sie am 21. August 1850 das Delta des Mackenzie Rivers mit seinen zahlreichen vorgelagerten Inseln. Am Abend ankerte HMS Investigator vor Pelly Island. „Meinen Geburtstag konnte ich heute so recht in aller Stille feiern. Abends zwei recht angenehme Stunden in meiner Kajüte, mit Mr. Piers und Farquarson“ schrieb Miertsching ins Tagebuch. Am nächsten Tag kreuzten sie bei Gegenwind vor der Küste, in Sichtweite der Inselgruppe mit Pelly Island, Garry Island, Kendall Island und Richards Island.
Sie ahnten nicht, dass nur vier Wochen zuvor Europäer hier vorbeigerudert waren und auf dem Weg nach Osten genau auf diesen Inseln ihr jeweiliges Camp aufgeschlagen hatten. Es handelte sich um eine Expedition mit zwei Booten unter Leitung von Leutnant William J.S. Pullen und Leutnant William Hulme Hooper, die bereits im Sommer 1849 von HMS Plover vor Alaska aufgebrochen waren, um an der Küste nach Spuren der vermissten Franklin-Expedition zu suchen. Anfang September waren sie bis zur Mündung des Mackenzie Rivers gekommen, wo sie der Wintereinbruch zwang, landeinwärts den Fluss hinauf nach Süden zu rudern.
Die Pullen/Hooper-Expedition erreichte Fort McPherson, wo sich die Gruppe aufteilte, um in den Stationen der Hudson’s Bay Company – Fort Simpson und Fort Franklin – zu überwintern. Im Juni 1850 waren sie erneut aufgebrochen, um nun die Suche östlich des MacKenzie Deltas fortzusetzen, und hatten Ende Juli wieder das Delta erreicht. Sie stießen noch bis nach Cape Bathurst vor, doch der Versuch, darüber hinaus in die Franklin Bay weiter ostwärts zu gelangen, scheiterte am schweren Packeis, das ihnen den Weg versperrte, so dass sie sich am 13. August zur Umkehr entschlossen, um wiederum in Fort Simpson zu überwintern.
Auf dem Rückweg erreichten Hooper und Pullen am 20. August Nuvarok Point, am 22. passierten sie Toker Point auf der Halbinsel östlich vom heutigen Tuktoyaktuk. Zur gleichen Zeit kreuzte HMS Investigator in weniger als 100 km Entfernung bei Nebel, Regen und Schnee vor Pelly, Kendall und Richards Island. Die beiden Expeditionen bewegten sich aufeinander zu, allerdings vermutlich in unterschiedlichem Abstand zum Festland. Im Laufe des 23. August erreichten beide Expeditionen die Bucht vor Tuktoyaktuk, in die der Hauptarm des Mackenzie River einmündet – und fuhren irgendwo aneinander vorbei.
Im Laufe des 24. entfernten sich die beiden Expeditionen wieder voneinander: Pullen und Hooper legten an der Insel an, die heute Hooper Island heißt, und benannten die nördlich davon gesichtete Insel Pullen Island. Besatzungsmitglieder von HMS Investigator hingegen gingen an der Halbinsel östlich von Tuktoyaktuk an Land, wo sie Kontakt mit der Inuit-Gruppe um ihren Führer Kairoluak aufnahmen – vermutlich am Toker Point. Das Schiff setzte in den nächsten Tagen seinen Ostkurs über Point Warren in Richtung Cape Bathurst fort, wohingegen Hooper und Pullen wieder in den Mackenzie-Fluß hineinfuhren; sie überwinterten wieder in Fort Simpson und kehrten im Sommer 1851 über York Factory an der Hudson Bay nach England zurück.
Mehr über die Reise von Miertsching und der Investigator-Crew, die die nächsten vier Winter im Eis der Arktis verbringen mussten, hier. Über die Pullen-Hooper-Expedition berichtet das Buch von William Hulme Hooper: Ten Months Among The Tents Of The Tuski with incidents of an Arctic Boat Expedition in search of Sir John Franklin, London 1853.
Erst im Nachhinein wurde klar, dass dieser 20. Juli in vieler Hinsicht entscheidend für den letztendlichen Erfolg der HMS Investigator war – die Entdeckung der Nordwestpassage.
Der ursprüngliche Plan der britischen Admiralität sah vor, dass die Schiffe HMS Enterprise und HMS Investigator im Sommer 1850 gemeinsam von der Beringstraße aus ostwärts in die Arktis fahren sollten, um nach der verschwundenen Franklin-Expedition zu suchen.
Die beiden Schiffe, deren Segelgeschwindigkeit sich deutlich unterschied, waren aber schon seit Wochen getrennt, und HMS Enterprise unter Kapitän Richard Collinson erreichte vor HMS Investigator unter Kapitän Robert McClure den Hafen Honolulu auf Hawaii. Nicht wissend, wann die Investigator eintreffen würde, entschloss sich Collinson, allein weiterzufahren, wohl wissend, dass sich Johann August Miertsching, Übersetzer für die Kommunikation mit den Inuit, an Bord der Investigator befand. HMS Enterprise nahm einen wohlbekannten Kurs auf – zunächst in Richtung Kamtschatka.
Collinson hatte in Honolulu einen Brief für McClure hinterlegt, in dem mitteilte, dass er nunmehr am Cape Lisburne auf die Investigator warten würde, jedoch plante, „im Falle dass die Investigator die Beringstraße nicht rechtzeitig erreichen sollte, mit der Enterprise entweder allein oder zusammen mit der beim Cape Lisburne im Nordwesten Alaska stationierten HMS Plover auf die Suche nach der Franklin-Expedition zu gehen, wohingegen die Investigator die Rolle der Plover als fest stationiertes Schiff übernehmen müsste.“ (Zitat aus unserem Buch)
Als HMS Investigator in Honolulu eingetroffen war, rief Collinsons Brief bei McClure und seinen Offizieren massive Unzufriedenheit hervor. Sie wollten nicht bei Cape Lisburne stationiert werden; schließlich hatten sie sich als Freiwillige der Suchexpedition angeschlossen und wollten nicht darauf verzichten, an der Auffindung der Franklin-Expedition und den damit verbundenen Ehrungen beteiligt zu sein.
Wie auch Collinson war McClure darauf hingewiesen worden, dass der schnellste Weg nach Norden mitten durch die Inselkette der Aleuten führe. Als ihm dieses nun vom Kapitän eines Handelsschiffes bestätigt wurde, gab es für McClure kein Zögern mehr: die Investigator nahm umgehend direkten Kurs auf die Aleuten, wo sie am 20.7. den Seguam Pass zwischen den Inseln Amlia und Seguam erreichten. Damit hatten sie den langen Umweg in Richtung Kamtschatka um mindestens zwei Wochen abgekürzt.
Nachdem McClure Ende Juli Cape Lisburne erreicht und dort vergeblich nach der Enterprise Ausschau gehalten hatte, entschied er sich, allein in die Arktis weiterzusegeln. So fuhr HMS Investigator noch rechtzeitig um Cape Barrow ins Polarmeer, bevor das Packeis im Spätsommer diese Passage erneut verschließen würde.
Noch im gleichen Herbst konnten sie die Entdeckung der Nordwestpassage feiern, fanden jedoch keinerlei Spuren der vermissten Franklin-Expedition. Mehr dazu in unserem Buch über das Leben von Johann August Miertsching „Weil ich ein Inuk bin“.
Am 8. Juli 2023 jährt sich zum 100. Mal der Tag, an dem der Warnemünder Pilot Arthur Neumann als erster ein Flugzeug von Spitzbergen aus in Richtung Nordpol lenkte. Neumann, Pilot im 1. Weltkrieg, kam 1919 nach Warnemünde und arbeitete ab 1923 für Junkers Luftverkehr AG, das damals führende Flugverkehrs-Unternehmen.
Junkers hatte bereits zwei Flugzeuge vom Typ F 13 an Roald Amundsen – den Bezwinger des Südpols, der Nordwest- bzw. auch der Nordost-Passage – geliefert. Amundsen wollte nonstop von Alaska über den Nordpol nach Spitzbergen fliegen. An der Montage des in Einzelteilen in Kisten gelieferten Flugzeugs waren jedoch keine Spezialisten von Junkers beteiligt. Nach einem kurzen Testflug brach der linke Ski bei der Landung, und der nun verunsicherte Amundsen blies den geplanten ersten Flug über den Nordpol ab.
Bei Junkers war man in Sorge über Amundsens Ambitionen und hatte zur Absicherung des Polarflugs eine weitere F13 (D 260) mit dem Flieger Arthur Neumann auf den Weg nach Spitzbergen geschickt, als plötzlich Amundsens generelle Absage eintraf. Junkers beschloss nun, das Flugzeug, geführt von Neumann und dem ihn begleitenden bekannten Schweizer Flieger und Fotografen Walter Mittelholzer, für Erkundungsflüge und erste Luftbildaufnahmen Spitzbergens zu nutzen.
Beim letzten dieser Flüge mit der D 260, dem „Eisvogel“, gelang es Neumann am 8.7.1923, trotz nicht störungsfrei arbeitendem Motor erstmalig mit einem Motorflugzeug den 80. Breitengrad zu überfliegen. Nach diesem mehr als sechsstündigen Rekordflug landeten sie im Basislager im Gronfjorden, der Bucht, wo sich heute die russische Siedlung Barentsburg befindet. Hier mussten sie allerdings feststellen, dass ein Ersatzteil zur Reparatur des Motors nicht zur Verfügung stand, und somit wurde das gesamte Unternehmen abgebrochen.
Man hatte jedoch den Beweis geliefert, dass Flugzeuge für die Erkundung der Arktis geeignet waren. Die fotografische Ausbeute Mittelholzers auf diesen Flügen war immens, selbst ein 16 Minuten langer Film ist bis heute erhalten geblieben. Arthur Neumann äußerte später, dass sie nach einer Reparatur des Motors gute Chancen gehabt hätten, erstmalig den Nordpol zu erreichen.
Für Arthur Neumann war es wohl der einzige Arktisflug, obwohl er als Pilot einer weiter entwickelten F13 von Junkers mit dem Namen „Súlan“ für die Lufthansa 1929 und 1930 in Island tätig war und bei der Gelegenheit auch den Polarkreis überflogen haben könnte.
Im Sommer 1929 flog Neumann mit der D 463 „Súlan“ eine Gesamtstrecke von 22.500 km und transportierte unter anderem 580 Passagiere, Post und Waren.
Zu seinen Aufgaben bei der Lufthansa gehörten neben Flügen nach Skandinavien, u.a. Stockholm 1924, auch Touristenflüge entlang des Ostseeküste. In diesen Jahren bildete er ebenfalls sowjetische Piloten im Blindflug aus, was offensichtlich im Zusammenhang mit Junkers Flugzeugbau-Aktivitäten in der UdSSR stand.
Leider sind von Arthur Neumann nur wenige persönlichen Aufzeichnungen über seine Zeit als Pilot in Island und fast nichts über sein späteres Fliegerleben bekannt. Wären da nicht das Buch „Im Flugzeug dem Nordpol entgegen“ von Mittelholzer, dessen wunderbaren Fotos in den Archiven und verstreute Artikel in DDR-Zeitschriften und Tageszeitungen (u.a. in der NNN von Reiner Frank geschrieben), wäre der Polarflieger Arthur Neumann aus Warnemünde, der als erster Flieger überhaupt von Spitzbergen in Richtung Nordpol geflogen war, längst vergessen.
Arthur Neumann starb 84jährig am 4. März 1974 in Rostock. Falls sich jemand im Besitz von unbekannten Dokumenten aus dem Nachlass befinden sollte oder Hinweise geben kann, bin ich dankbar für eine Nachricht. Mehr über Arthur Neumann auf hier: „Ein Polarflieger aus Warnemünde„
Am 4. Juni 1857 brach Roderick MacFarlane, Angestellter in der Niederlassung Fort Good Hope der Hudson’s Bay Company am Mackenzie River, zu einer Bootsfahrt in den Norden auf.
Er wollte endlich in direkten Kontakt mit den Inuvialuit – einem Inuit-Volk – treten. Ihn begleiteten sechs Männer, darunter zwei frankokanadische „Voyageurs“ und vier Angehörige der First Nations, vermutlich Satuh Dene. Auf Seen und Flüssen und über viele Portagen suchten sie einen Weg nordwärts zum „Begh-Ula River“ (Anderson River), den sie eine Woche später erreichen. Hier war das Eis bereits aufgebrochen. Die Satuh Dene, die hier ihre Fischgründe hatten, trieb gelegentlich Handel mit den Inuvialuit weiter im Norden.
Flussabwärts auf dem Anderson River kam MacFarlane mit seinen Leuten nunmehr schnell voran und erreichte schon nach zwei Tagen einen Siedlungsplatz der Inuvialuit. Über einen Dolmetscher versuchte er, diese zum zukünftigen Handel mit der Hudson’s Bay Company zu überreden, was ihm offenbar gelang.
McFarlane hatte aber noch ein zweites Anliegen: er wollte etwas über den Verbleib der Berichte von Kapitän McClure erfahren. Als 1850 die Crew von HMS Investigator im August bei Cape Bathurst auf eine Gruppe von Inuvialuit traf, übergab der Kapitän mithilfe seines Übersetzers Johann August Miertsching dem Elder* Kenalualik ein Bündel mit Berichten für die britische Admiralität und Briefen. Er bat darum, diese an die Hudson’s Bay Company in Fort Good Hope weiterzuleiten.
„Der Kapitän zweifelte, ob die Briefe jemals London erreichen würden, denn die Männer hatten erzählt, dass sie lediglich mit den sogenannten Locheaux oder »Hare Indians« (sie selbst bezeichneten sich als Satuh Dene) Handel treiben; diese wiederum würden allerdings mit der Hudson’s Bay Company im Süden handeln, aber es war eben kein direkter Weg. Miertsching war jedoch zuversichtlich, denn Kenalualik hatte ihm versprochen, sein Bestes zu tun, um die Post zu befördern.“ (Zitat aus unserem Buch „Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – Ein Lebensbild„). Doch McClure schien mit seiner Skepsis Recht behalten zu haben, denn als er 1854 nach London zurückgekehrte, musste er feststellen, dass die an Kenalualik übergebene Post nicht bei der Admiralität eingetroffen war.
McFarlanes Bemühungen um das vermisste Postbündel hatte zunächst keinen Erfolg: die Inuvialuit schienen wohl nichts davon zu wissen, woran er zwar aufgrund ihrer Reaktionen – Minen und Gesten – einige Zweifel hatte, doch er war auf Übersetzer angewiesen und konnte zunächst nichts ausrichten. Auf seinem Rückweg erforschte er noch den Anderson River flussaufwärts, bevor er über den Lake Colville am 14. Juli wieder nach Fort Good Hope zurückkehrte.
Auch in den folgenden Jahren, als er einige Winterreisen nach Norden unternahm, fragte McFarlane wiederholt nach dem Bündel – ohne Erfolg. 1861 wurde schließlich am Anderson River ein Handelsposten, Fort Anderson, errichtet. Als MacFarlane von hier aus im Februar 1862 das Winterlager einer anderen Inuvialuit-Gruppe besuchte und seine übliche Frage stellte, wusste man dort sogleich Bescheid. Es stellte sich heraus, dass Kenalualik bereits lange vor 1857 verstorben war. Wie es Tradition war, hatte man sein persönliches Eigentum, aber auch das Bündel mit der Post ins Grab gelegt! Es dauerte noch einige Wochen, bis es aus dem Grab geborgen werden konnte, aber am 5. Juni 1862, fünf Jahre nach MacFarlanes erster Reise zu den Inuvialuit, kam einer von ihnen nach Fort Anderson und übergab das nahezu unversehrte Paket.
Schließlich – mit 12 Jahren Verspätung – kam die so lange im arktischen Boden vergrabene Post, nunmehr befördert über Port Simpson und Red River (Winnipeg), 1862 in London an.
In diesem Bündel befanden sich auch Privatbriefe, darunter ein Brief Miertschings an seine Familie, seine Freunde und die Leitung der Brüdergemeine. Wir glaubten unseren Augen nicht zu trauen, als wir 2017 überraschend diesen zuvor völlig unbekannten Brief in einer Ablage im Unitätsarchiv in Herrnhut entdeckten! Der Zufallsfund brachte uns auf die Spur dieses bemerkenswerten postalischen Umwegs über das Grab eines Inuk. – Zu diesem Brief später mehr.
Übrigens erwarb McFarlane von den Inuvialuit am Anderson River einige Sammlerstücke – darunter die bisher älteste bekannte graphische Inuit-Kunst in Kanada, mit Farbe auf Holzbretter gemalt.
* („Ältester“, eigentlich: erfahrenste Person, eine Art gewählter temporärer Anführer)
Eine Rezension zu Adam Nicolsons Buch über „Papageientaucher, Tölpel und andere Meeresreisende“
Auf wunderbare Weise erzählt der Autor in poetischer und populärwissenschaftlicher Sprache über das Leben der Seevögel. Mit heutigen wissenschaftlichen Methoden und der Ausstattung vieler Vögel mit Sendern erfahren wir viel mehr als in früheren Jahren, als wir die meisten Seevögel nur an den Brutplätzen beobachten konnten.
„In diesem faszinierenden, mitreißenden erzählten Band zeigt Adam Nicholsen, dass Seevögel unsere Mitspieler in Drama des Lebens sind – und zugleich Metaphern für das, was wir sind und sein können“, steht auf dem Buchdeckel.
Der Langzeittrend der Vogelpopulationen geht in den letzten Jahrzehnten abwärts. Nur ein Beispiel: Durch die Überfischung werden die Wege der Lummen von ihren Fangplätzen zu ihren Brutplätzen länger und der damit verbundene Energieverbrauch größer, so dass viele keine Eier mehr legen, denn die verbleibende Energie brauchen sie für sich selbst.
Ein mahnendes Buch für nächste Generationen, schonend mit unserer Umwelt umzugehen und die Klimaziele einzuhalten. – Hier die Vogelarten, die im Buch vorkommen und die ich alle selbst auf hoher See oder an den Brutfelsen erlebt habe – und von denen manche Arten stark gefährdet sind: die Familien der Albatrosse, der Kormorane, der Sturmvögel, der Möwen. Die Arten: Dreizehnmöwe, Tölpel, Lummen, Papageientaucher, Tordalk und Eissturmvogel.
All diese Vögel habe ich in einem malerischen Zyklus in Collagen-Form vereinigt. Der geografische Schwerpunkt liegt hier in der Beringsee entlang der Inselkette der Aleuten, wo ich sie beobachten konnte. Dabei verwendete ich Werbeprospekte, mit denen wir alltäglich zugeschüttet werden, um unseren Konsum anzutreiben. Hierbei zeigt sich, wie wir mit unseren wertvollen Ressourcen umgehen und das Klima und Umwelt schädigen. Meine Arbeiten sollen auch mahnen und aufzeigen, wohin wir uns bewegen, wenn nicht Einhalt geboten wird. Dann werden wir diese Seevögel nur noch in Museen erleben, wie den ausgestorbenen Riesenalk.
Adam Nicolson: Der Ruf des Seevogels. Aus dem Leben von Papageientauchern, Tölpeln und anderen Meeresreisenden, Liebeskind Verlag 2021, 368 Seiten, 36€
Nach dem dritten entbehrungsreichen Winter an Bord von HMS Investigator war die gesamte Mannschaft körperlich geschwächt, Hunger und Skorbut forderten ihren Tribut. Als sie dann mit dem Eintreffen von Leutnant Pim – dem „schwarzen Mann mit dem Hundeschlitten“ – vor dem fast sicheren Tod gerettet worden waren, musste das noch immer fest vom Eis umschlossene Schiff schließlich verlassen werden.
Die Ankunft von Pim bei HMS Investigator veränderte alles
Miertsching war zwar heilfroh über die Rettung, doch er war auch traurig, vor allem wegen seiner Sammlungen – Fossilien, Ethnografika sowie ein Herbarium von ca. 4000 Pflanzen – wie auch wegen seines Tagebuchs, die an Bord bleiben mussten. „»Also mußte auch ich meine vierjährige Arbeit hier in Todt geben.« Das mag übertrieben klingen, aber Miertschings Niederschriften enthielten viele wertvolle Fakten und Begebenheiten aus fast dreieinhalb erlebnisreichen Jahren: Beschreibungen von Orten und Menschen, von Begegnungen und Funden, persönliche Eindrücke und zwischen den Zeilen auch über seinen Gemütszustand, seine Zweifel und seine Hoffnungen.“ (S. 291)
Saxifraga – Steinbrech
Am 11. April 1853 schrieb er ins Tagebuch: „Da wir alle unsre Sachen auf dem Schiff zurücklassen müssen, und nur erlaubt ist 2 paar Strümpfe nebst dem was man auf dem Leibe trägt mitzunehmen, so habe ich nun alle meine Sachen zusammengepackt; 4 mit Leder überzogenen Koffer, 1 Kasten mit Steinen; 1 Kasten mit Eskimo-Waffen; 1 Kasten mit getrockneten Pflanzen; 1 Lederne Huthschachtel. – Daß ich meine ganzen Schreibereien die mir viel Mühe gemacht haben und mir über alles andre werth sind verlassen muss, schmerzt mich sehr.“ Er hat nie erfahren, das Teile seiner Kästen später noch geborgen und nach London verbracht wurden.
Cresswell: Verlassen von HMS Investigator
Vier Tage später, bei stürmischem Wetter und Temperaturen um minus 20° C begann der Abmarsch nach Dealy Island: mehr als 300 km übers Eis mit schweren Lastschlitten, die mit Verpflegung, Zelten, Schlafsäcken, Werkzeug und Waffen beladen waren. „Cresswell hatte die Szene des Abschieds in einer Zeichnung festgehalten: Drei vollgepackte Schlitten stehen neben der Investigator auf dem Eis. Die einzelne Person ganz links könnte Cresswell selbst sein – oder aber Miertsching.“ (S. 293)
Cresswell: Mit den Schlitten übers Packeis
„Für gesunde Männer wäre die Last zu bewältigen gewesen, doch die geschwächten Seeleute kamen nur langsam voran: »Es gab heute viele lahme Pferde; … weil so viele durch die Scorbut-Kranckheit so entkräftet und leidend sind und kaum – sich an die Schlitten anhaltend – mit fortkommen können, so fiel die ganze Last auf die wenigen Gesunden«. Oft mussten sie auf Händen und Knien über das aufgetürmte Packeis klettern und die Schlitten mit vereinten Kräften einzeln über die Hindernisse hieven.“ (S. 294)
Nach sieben Tagen Marsch erreichten sie Melville Island, für Miertsching Anlass, trotz aller Anstrengung und Müdigkeit, sich nicht wie die anderen schlafen zu legen, sondern hügelan zu steigen; seine Gedanken an diesem Tag hielt er fest: „»Hier stand ich nun auf Mellvile Insel, und konnte mich bei allen Elend und Noth des schmeichelnden Gedancken nicht enthalten, daß ich hier in diesen Polar-Regionen der einzige Wende aus Deutschland bin, und an der seit mehr als 300 Jahren gesuchten nun von uns entdeckten Nordwestlichen Durchfahrt theil habe«; ein bewegender Moment, in dem er sein Bekenntnis zu seiner sorbischen Herkunft explizit zum Ausdruck brachte. Sein kleiner »Ausflug« auf den Hügel zeigt exemplarisch seine mentale und physische Stärke, die ihn so wichtig für das Überleben vieler Seeleute der Investigator machte. Leutnant Pim schrieb Jahre später über ihn: »…er war der nützlichste Mann an Bord [der Investigator]… .«“ (S. 295)