Ungesehen aneinander vorbei

Aus Anlass des Geburtstags von Johann August Miertsching

Sie glaubten sich allein und isoliert in der Einöde der arktischen Eismeers – und ahnten nicht, dass ganz nahe Europäer vorbei ruderten, die davon ebenfalls nichts wussten und sich wohl genauso allein und isoliert fühlten. Es war lange bevor es Funkgeräte oder gar Satellitennavigation gab; Schiffsbesatzungen „sprachen“ mittels Flaggensignalen miteinander – falls man denn Sichtkontakt hatte. Vor Alaska hatte die Crew der Bark HMS Investigator letztmalig Ende Juli 1850 zwei dort stationierte Schiffe der Royal Navy – HMS Plover bzw. HMS Herald – kontaktiert.

Signalflaggen
Historisches Beispiel für Signalflaggen. Bild: Projekt Gutenberg

Ab August aber war die Besatzung der Investigator ganz allein und auf sich gestellt im Polarmeer unterwegs. Vom dichten Packeis weiter nördlich gezwungen, immer in Küstennähe weiter in Richtung Osten zu segeln, erreichten sie am 21. August 1850 das Delta des Mackenzie Rivers mit seinen zahlreichen vorgelagerten Inseln. Am Abend ankerte HMS Investigator vor Pelly Island. „Meinen Geburtstag konnte ich heute so recht in aller Stille feiern. Abends zwei recht angenehme Stunden in meiner Kajüte, mit Mr. Piers und Farquarson“ schrieb Miertsching ins Tagebuch. Am nächsten Tag kreuzten sie bei Gegenwind vor der Küste, in Sichtweite der Inselgruppe mit Pelly Island, Garry Island, Kendall Island und Richards Island.

Pelly Ialand - Foto © Lina Madaj
Küstenerosion mit tauendem Permafrost auf Pelly Island. Foto © Lina Madaj

Sie ahnten nicht, dass nur vier Wochen zuvor Europäer hier vorbeigerudert waren und auf dem Weg nach Osten genau auf diesen Inseln ihr jeweiliges Camp aufgeschlagen hatten. Es handelte sich um eine Expedition mit zwei Booten unter Leitung von Leutnant William J.S. Pullen und Leutnant William Hulme Hooper, die bereits im Sommer 1849 von HMS Plover vor Alaska aufgebrochen waren, um an der Küste nach Spuren der vermissten Franklin-Expedition zu suchen. Anfang September waren sie bis zur Mündung des Mackenzie Rivers gekommen, wo sie der Wintereinbruch zwang, landeinwärts den Fluss hinauf nach Süden zu rudern.

Fort McPherson © Wolfgang Opel
Fort McPherson war damals die nächstgelegene Station der Hudson’s Bay Company. Foto von 2019, © Wolfgang Opel

Die Pullen/Hooper-Expedition erreichte Fort McPherson, wo sich die Gruppe aufteilte, um in den Stationen der Hudson’s Bay Company – Fort Simpson und Fort Franklin – zu überwintern. Im Juni 1850 waren sie erneut aufgebrochen, um nun die Suche östlich des MacKenzie Deltas fortzusetzen, und hatten Ende Juli wieder das Delta erreicht. Sie stießen noch bis nach Cape Bathurst vor, doch der Versuch, darüber hinaus in die Franklin Bay weiter ostwärts zu gelangen, scheiterte am schweren Packeis, das ihnen den Weg versperrte, so dass sie sich am 13. August zur Umkehr entschlossen, um wiederum in Fort Simpson zu überwintern.

Die Küste vor Tuktoyaktuk, Ort der historischen „Nicht-Begegnung“, im Jahr 2019.
© Wolfgang Opel

Auf dem Rückweg erreichten Hooper und Pullen am 20. August Nuvarok Point, am 22. passierten sie Toker Point auf der Halbinsel östlich vom heutigen Tuktoyaktuk. Zur gleichen Zeit kreuzte HMS Investigator in weniger als 100 km Entfernung bei Nebel, Regen und Schnee vor Pelly, Kendall und Richards Island. Die beiden Expeditionen bewegten sich aufeinander zu, allerdings vermutlich in unterschiedlichem Abstand zum Festland. Im Laufe des 23. August erreichten beide Expeditionen die Bucht vor Tuktoyaktuk, in die der Hauptarm des Mackenzie River einmündet – und fuhren irgendwo aneinander vorbei.

Mackenzie Delta
Mackenzie Delta
Mackenzie-Delta mit Pelly Island, wo HMS Investigator am 21. und 22. 8. kreuzte.
Abbildung: NASA

Im Laufe des 24. entfernten sich die beiden Expeditionen wieder voneinander: Pullen und Hooper legten an der Insel an, die heute Hooper Island heißt, und benannten die nördlich davon gesichtete Insel Pullen Island. Besatzungsmitglieder von HMS Investigator hingegen gingen an der Halbinsel östlich von Tuktoyaktuk an Land, wo sie Kontakt mit der Inuit-Gruppe um ihren Führer Kairoluak aufnahmen – vermutlich am Toker Point. Das Schiff setzte in den nächsten Tagen seinen Ostkurs über Point Warren in Richtung Cape Bathurst fort, wohingegen Hooper und Pullen wieder in den Mackenzie-Fluß hineinfuhren; sie überwinterten wieder in Fort Simpson und kehrten im Sommer 1851 über York Factory an der Hudson Bay nach England zurück.

Fort Simpson
Fort Simpson 2019 – hier befand sich seinerzeit das Fort der Hudson’s Bay.
Foto © Wolfgang Opel

Mehr über die Reise von Miertsching und der Investigator-Crew, die die nächsten vier Winter im Eis der Arktis verbringen mussten, hier. Über die Pullen-Hooper-Expedition berichtet das Buch von William Hulme Hooper: Ten Months Among The Tents Of The Tuski with incidents of an Arctic Boat Expedition in search of Sir John Franklin, London 1853.

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