Bei einer Reise von St. Johns auf Neufundland nach Kuujjuaq in Québec auf dem russischen Expeditions-Kreuzfahrtschiff „Lyubov Orlova“ hatten wir Gelegenheit, die Labrador-Halbinsel zu umrunden. Neben den alles überragenden Naturerlebnissen faszinierte uns besonders der Inuk Tivi Etok – wohl die interessanteste Persönlichkeit an Bord des bereits etwas in die Jahre gekommenen Schiffes.
Er war uns erst im zweiten Teil der Fahrt aufgefallen, als er und sein Begleiter sich häufig ganz vorn an der Reling des Oberdecks aufhielten. Zwei rote Klappstühle mit dem Ahornblatt auf weißem Grund standen dort bereit, die, soweit wir das beobachteten, nie von anderen Passagieren benutzt wurden.
Den Namen des älteren Inuk mit kräftiger Statur und kurzgeschorenem weißen Haupthaar erfuhren wir erst während einer Gesprächsrunde, die von seinem jüngerem Begleiter, dem Inuk George Berthe, geleitet und übersetzt wurde – denn Tivi Etok selbst sprach nur Inuktitut.
So erfuhren wir, dass Tivi, geboren 1929, zu den lange halbnomadisch lebenden Inuit in Nordlabrador gehört. Je nach Jahreszeit wechselten sie zwischen der Ungava Bay im Westen und der Atlantikküste im Osten. Von seinen Eltern erlernten er und seine Geschwister das Überleben in der Wildnis. Sie jagten Robben, Walrosse und Wale, Karibus, Schwarz- und Eisbären, um ihre Familien zu ernähren. Was sonst noch benötigt wurde, erwarben sie im Austausch gegen Felle, Fisch und Fleisch von Händlern oder Missionaren.
Nordlabrador wird von den Torngat Mountains, den sogenannten Geisterbergen, geprägt: Hohe Berge mit Gletschern umrahmen tiefe Täler und ausgedehnte Fjorde, vor den steilen Ufern liegen unzählige kleine und größere Inseln. Die Gewässer sind bis in den Sommer hinein gefroren und die Berghänge lange schneebedeckt.
Die schönsten Fjorde sind der Saglek- und der Nachvak- Fjord; sie gehören zum einstigen Wohn- und Jagdgebiet Tivi Etoks. Wir befuhren also mit ihm seine heimatlichen Gewässer. Die beiden Inuit beobachteten aufmerksam die Gegend, mit bloßem Auge wie mit dem Fernglas, und erkannten lange vor uns Laien, wenn gelegentlich Schwarz- und Eisbären auszumachen oder bei Landgängen Spuren von Karibus und Wölfen zu sehen waren.
Die Welt der „Tongait“ (Inuktitut für „Geister“), war zumindest für den jungen Tivi eine Realität, die Einfluss auf Jagderfolge – oder aber Misserfolge – und damit das Überleben der Inuit haben konnte. So war es nicht ungewöhnlich, dass der junge Jäger im Oktober 1943 bei einem Streifzug an der Martin Bay im äußersten Nordosten Labradors meinte, Tongait zu sehen, als er im Wasser ein senkrechtes Rohr beobachtete, unter dem kurz darauf ein dunkler Rumpf auftauchte, auf dem seltsame Lebewesen herumliefen. Er bekam Angst und versteckte sich, in der Folge vermied er diese Gegend.
Erst viele Jahre später wurde klar, dass Tivi Etok ein deutsches U-Boot beobachtet hatte, dessen Mannschaft an Land eine automatische Wetterstation installierte. Dieser Fakt wurde in Kanada erst 1981 bekannt, nach Recherchen des deutschen Ingenieurs Franz Selinger.
Das Leben Tivi Etoks war über viele Jahre lang von der Jagd bestimmt. Das änderte sich ca. 1960 Kanadische Bürokraten hatten aus angeblichen Sicherheitsgründen beschlossen, dass Beamten der RCMP (Polizei) sämtliche Schlittenhunde der Inuit erschießen sollten. Damit wurde jedoch den meisten Jägern und ihren Familien die Lebensgrundlage entzogen, und sie waren gezwungen, permanent in Siedlungen zu leben.
Tivi Etok, der schon als Kind gern gezeichnet hatte, beschloss, seinen Lebensunterhalt zukünftig mit Kunst zu verdienen. Der überaus talentierte Jäger wurde schnell zu einem bekannten Künstler, der 1975 als erster Inuk überhaupt eine Personalausstellung mit Katalog erhielt. Inzwischen als Inuit-Elder hochgeachtet, hatte er weitere Herausforderungen zu meistern, die das Leben in der kanadischen Arktis auch für einen bekannten Inuk mit sich bringen.
2007 erschien die Biografie „Die Welt des Tivi Etok“ von Jobie Weetaluktuk (Inuk-Filmemacher) und Robyn Bryant, die eine Einführung in das Leben und die Kunst Tivi Etoks gibt. Nur wenige Exemplare davon waren in einem Laden in Kuujjuaq verfügbar; die glücklichen Erwerber ließen sie vor der Abreise von Tivi signieren.
2022 wurde dem damals 94jährigem Künstler dann eine besondere Ehre zuteil. Er wurde in den renommierten „Ordre des Arts et des Lettres“ von Québec aufgenommen, zu dessen Mitgliedern u.a. Leonard Cohen und Celine Dion gehören.