Nachdem 1855 Johann August Miertschings „Reise-Tagebuch“ seiner Arktisexpedition – und schon ein Jahr später eine zweite Auflage – erschienen waren, wurden nach einer 1857 erfolgten Übersetzung ins Französische zwei Auflagen in Genf verlegt. 1860 erschien im Verlag von Peter Tidemand Malling in Christiania, dem heutigen Oslo, auch eine dänische Ausgabe.
Auf den ersten Blick erscheint das ungewöhnlich. Hätte nicht eine englische Übersetzung näher gelegen? Allerdings gab es ja schon Daniel Benhams „Sketch of the life of Jan August Miertsching“, die gleich nach dessen Rückkehr aus der Arktis 1854 in London erschienen war.
Auf den zweiten Blick aber ist eine dänische Ausgabe sogar naheliegend, denn die Herrnhuter Brüdergemeine, zu der Miertsching gehörte, war bereits seit 1733 im zu Dänemark gehörenden Grönland tätig, am Ausgangspunkt der „Nordwestpassage“. Von dem Herrnhuter David Cranz stammt die „Historie von Grönland“, das Standardwerk zur Geschichte von Grönland, das bereits 1767 in englischer Sprache erschienen und in Großbritannien wohlbekannt war.
In Dänemark und Norwegen war das Interesse an der Nordwestpassage sicherlich nicht nur wegen der Geschichte der Wikinger und (später) das Walfangs groß. Ein wichtiger Faktor war auch, dass die Herrnhuter Brüdergemeine seit 1773 auch in Christiansfeld in Dänemark ansässig ist. Nach Miertschings Rückkehr von seiner fast fünfjährigen Arktisreise (mit einem kurzen Stopp in Grönland) kam besonders aus dieser Gemeine mehrfach die dringende Aufforderung, dass er dort über seine Erlebnisse berichten sollte. Da die Gemeine zusicherte, alle Kosten seiner Reise nach Christiansfeld und zurück zu tragen, und nachdem die Ältestenkonferenz in Herrnhut zugestimmt hatte, machte sich Miertsching im Juni 1855 dorthin auf den Weg. Wie aus einer kurzen Protokollnotiz hervorgeht, muss sein Vortrag in Christiansfeld sehr eindrucksvoll gewesen sein.
Übrigens begeht die Gemeine in Christiansfeld 2023 ihren 250. Geburtstag. Wegen seiner außergewöhnlichen Geschichte und Architektur gehört der Ort zum UNESCO-Weltkulturerbe – allein deshalb werden wir den Ort demnächst besuchen!
Nachdem Johann August Miertsching und seine Leidensgenossen die Investigator verlassen und die Rettungschiffe HMS Resolute und HMS Intrepid bei Dealy Island erreicht hatten, hofften alle, im Herbst wieder in Europa zu sein. Tatsächlich brach am 17. August 1853 das Eis auf, und die Schiffe trieben mit den Eisfeldern gen Osten; nur selten lagen offene Wasserflächen vor ihnen, die es erlaubten, zu segeln. Doch bald blieben die Temperaturen konstant unter Null, und am 10. September waren die Schiffe wieder festgefroren. „Von einem Tag zum andern war Miertschings Hoffnung vereitelt worden, noch im gleichen Jahr nach Hause zu kommen. Von Tag zu Tag wurde es kälter und das Eis immer dicker – die Schiffe froren endgültig ein“ (Zitat aus unserem Buch). Anders als bei Dealy Island waren sie nun weit vom Land entfernt, doch die Eisfelder, die die Schiffe gefangen hielten, bewegten sich mit den wechselnden Strömungen noch einige Wochen lang ostwärts.
Miertschings Tagebucheintrag vom 14. November 1853 – vor genau 169 Jahren: „Seit mehreren Tagen wurde bemerkt daß das Eis nun zum völligen still stehen gekommen ist; beide Schiffe befinden sich nach den angestellten Beobachtungen seit 3 Tagen auf einer und derselben Stelle, und diese wurde nun als unser Winterquartier bezeichnet.“ Sie waren jetzt etwa 60 Kilometer vom Cape Cockburn auf Bathurst Island entfernt. Seinen Namen erhielt das Kap zu Ehren des Vize-Admirals Sir George Cockburn (1788-1853) von Edward Parry auf seiner Reise zur Suche nach der Nordwestpassage 1819/20, bei der Parrys Schiffe bis nach Melville Island gelangt waren – viel weiter als jedes britische Schiff zuvor.
Anlass für Miertschings Tagebucheintrag am 14.11. war der Tod von Leutnant Henry Hubert Sainsbury, gerade einmal 26 Jahre alt, der an diesem Tag seinen langen und schweren Leiden erlegen war. Miertsching hatte sich gemeinsam mit dem Assistenzarzt Henry Piers ganz besonders um den erkrankten Sainsbury gekümmert und in letzter Zeit nachts bei ihm gewacht. Tags darauf wurde sein Leichnam mit militärischen Ehren durch das Eis im Meer versenkt. Miertsching schrieb einen Spruch für ihn ins Tagebuch, der aus einem Gesangbuch der „Moravian Church“ (Herrnhuter Brüdergemeine) stammt, doch er ersetzte hier das Wort „earth (Erde) mit „Sea“ (Meer) :
To the Sea let these remains In hope committed be; Until the body, changed, obtains Blessed immortality.
Auf Befehl des Flotten-Admirals Sir Edward Belchers wurden HMS Intrepid und HMS Resolute im Frühjahr 1854 aufgegeben und verlassen, und die Männer machten sich zu Fuß auf den Weg nach Beechey Island.
Am 21. Oktober 1850 zog Kapitän Robert McClure gemeinsam mit dem Navigator Stephen Court und sieben Matrosen entlang der Küste von Banks Island, an der die Investigator im Eis eingeschlossen war, nach Norden. Er wollte herausfinden, ob sich das Schiff in einem Wasserarm befand, der mit den arktischen Gewässern weiter im Norden verbunden war, oder ob es eine Bucht war, in der es festsaß.
Der Morgen des 26. Oktober 1850 war
schön und wolkenlos. Kapitän McClure und seine Schlittenmannschaft
machten sich noch vor Sonnenaufgang auf den Weg, um von einem Hügel
in der Nähe einen freien Blick auf das umliegende Meer zu haben. Sie
stiegen bis 200m über dem Meeresspiegel auf und warteten dort auf
die Zunahme des Lichts.
Die aufsteigende Sonne eröffnete ihnen zunächst einen freien Blick auf Victoria Island, dessen Küste sich weit nach Osten zog, und dann auf die Nordostspitze von Banks Island von wo die Küste nach Nordwesten führte. Im Norden jedoch war nur noch Eis zu sehen, das den ganzen Viscount Melville Sound bedeckte. Wegen ihres hohen Standortes über dem Meeresspiegel und der freien Sicht nach Norden konnten sie weiteres Land zwischen Banks und Melville Island ausschließen. Sie hatten somit die Nordwest-Passage entdeckt!
Während der Abwesenheit McClures hatte man bei einer Inspektion an Bord festgestellt, dass 700 Pfund eingekochtes Fleisch verdorben waren und dringend Frischfleisch benötigt wurde. Am 29.10. ging Miertsching deshalb mit zwei Offizieren und einem Matrosen an Land, um zu jagen. Was als „Herrenpartie“ gedacht war, endete als höchst gefährliche, aber überaus erfolgreiche Jagd auf ihnen zunächst unbekannte Tiere.
Hier ein Auszug aus unserem Buch: „Die Männer legten sich mit den Gewehren im Anschlag mit deutlichem Abstand zueinander flach auf den Schnee, während sich die unbekannten Tiere unentwegt auf sie zubewegten. »Wir sahen nun dass die Thiere, nicht ahnend was ihnen bevorstehe, immer näher kamen; hatten die Größe eines Rindes, furchtbare Hörner etwas krumm gebogen wie ein Ochse, den ganzen Körper mit langen Haren bedeckt, die bis auf den Schnee herunter reichten, so daß kaum die untern Theile der Füße sichtbar waren«, notierte Miertsching später.“
Als Kapitän McClure am 31.Oktober unter dramatischen Umständen, mehr tot als lebendig, die Investigator erreichte, war er zunächst gar nicht in der Lage, von seinem Erfolg zu berichten. Erst Stunden später kam – zusätzlich zur Begeisterung über die 1300 Pfund frisches Moschusochsenfleisch – allgemeine Freude über die Entdeckung der Nordwestpassage auf.
Genau vor 170 Jahren, am 14. Oktober 1852, kehrte ein Schlittentrupp unter Leutnant Mecham zum Winterlager der Schiffe Resolute und Intrepid bei Dealy Island zurück. Mittels eines Lastschlittens, beflaggt mit dem Motto „Per mare, per terram, per glaciem“, hatten sie auf Melville Island ein Depot mit Versorgungsgütern und Lebensmitteln angelegt. Damit sollten im kommenden Frühjahr längere Erkundungsexpeditionen per Schlitten ermöglicht werden. Auf dem Rückweg hatte Mecham am 12. Oktober an einem markanten Sandsteinfelsen oberhalb von Winter Harbour haltgemacht: Parry’s Rock.
„Der große Sandsteinfelsen in Form einer langgestreckten Stumpfpyramide überragt das umliegende flache Land und ist schon aus größerer Entfernung erkennbar. Seinen Namen erhielt er wegen der tief eingeschnittenen Inschrift, die an Parrys Überwinterung erinnert: »His Britannic Majesty’s ships Hecla and Griper, Commander Parry and Lyddon, wintered in the adjacent harbour during the winter of 1819-20, A. Fisher« …“ (Zitat aus unserem Buch: Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – ein Lebensbild).
Mecham wollte gerade die über 30 Jahre alte Inschrift vom Aufenthalt Parrys mit den Namen und Daten der eigenen Expedition ergänzen, da rollte ihm ein Kupferzylinder vor die Füße. Der enthielt eine Nachricht von Kapitän McClure vom April, die über die Entdeckung der Nordwestpassage und den Verbleib seines Schiffes Investigator informierte, das 270 km südwestlich von hier im Eis der Mercy Bay auf Banks Island gefangen lag. Mechams Fund sollte eine Schicksalswende für die Männer auf der Investigator bedeuten, die schon zwei Winter im Eis der Arktis verbracht hatten – die ahnten davon jedoch nichts.
Mecham eilte umgehend zurück zur Resolute, um Kapitän Kellet diese wichtige Nachricht zu überbringen. „Der einbrechende Winter machte es jedoch unmöglich, der Investigator noch im gleichen Jahr zur Hilfe zu kommen. Im März 1853 meldete sich Leutnant Pim freiwillig, um nach dem Schiff zu suchen. Mit einem von sieben Männern gezogenen Lastschlitten und einem Hundeschlittengespann machten er und der Schiffsarzt Dr. Domville sich am 10. des Monats auf den Weg. Extremes Wetter mit orkanartigen Schneestürmen verzögerte das Vorankommen des Trupps um viele Tage. Der Lastschlitten war dem mühseligen Weg über die „Hummocks“, die Presseishügel, nicht gewachsen und zerbrach. Bei eisiger Kälte beschloss Pim, den Rest des Weges nunmehr allein mit dem Hundegespann und nur zwei Männern zurückzulegen. Nach 28 Tagen waren sie gerade noch rechtzeitig eingetroffen …“(Zitat aus unserem Buch).
Pims Ankunft bedeutete die Rettung für die meisten der inzwischen von Hunger und Krankheit gezeichneten, schwachen Männer auf der Investigator. Ihnen stand jedoch noch ein Gewaltmarsch über das zerklüftete Packeis nach Dealy Island zu den Schiffen Resolute und Intrepid bevor.
Johann August Miertsching schrieb im Tagebuch über den Teil der Mannschaft, der dort Tage nach ihm selbst eintraf: „Diesen traurigen Anblick, der sich hier uns darbot, werde ich in meinen Leben nicht vergessen. Auf jeden der 4 Schlitten lagen 2 Krancke festgebunden; andre ganz Entkräftete wurden von ihren etwas stärckeren Kameraden geführt; wieder andre hielten sich und lehnten an die Schlitten, und diese wurden von einer Mannschaft gezogen, wo mehrere ihrer Füße nicht mächtig alle 5 Minuten wieder hinfielen und von ihren Gefährten, dem Kapitain oder denen Officieren aufgerichtet werden mußten. Dieses Bild des Elendes erinnerte mich an die unglückliche Francklinsche Expedition …“ (Zitat aus unserem Buch). – Nicht auszudenken, was aus der Mannschaft der Investigator geworden wäre, wenn Mecham den Zylinder mit McClures Nachricht übersehen hätte!
Warum die Mannschaft der Investigator dann aber noch einen vierten Winter im Eis verbringen musste, kann man in unserem Buch im Kapitel „Ums Überleben“ nachlesen.
Bei uns geht gerade ein heißer Sommer zu Ende. Doch als Johann August Miertsching vor 170 Jahren den obigen Satz notierte, hatte in der Mercy Bay (Banks Island, im Hohen Norden Kanadas) bereits der Winter das Regime übernommen. 1852 war der Sommer dort extrem kühl, und entgegen aller Hoffnungen war Ende August das Eis nicht aufgebrochen; lediglich ein schmaler Wasserstreifen in Ufernähe hatte den Männern den Weg vom Schiff zum Land erschwert. Nun war auch der wieder fest zugefroren, der Boden bereits von Neuschnee bedeckt, und sämtliche Wasservögel waren längst auf dem Weg nach dem Süden.
Von der Spitze der Hügel aus konnte man jenseit des Eises Melville Island ausmachen, doch es blieb unerreichbar. Das Schiff, HMS Investigator auf der Suche nach der verschollenen Franklin-Expedition, war im Eis gefangen. Miertschings Beschreibung, wie die Männer „mit hängenden Köpfen und hungrigen Magen herumschleichen“ und „der mit Sorgen belastete Kapitän … auf einsamen Wanderungen auf den Bergen“ Trost sucht, zeichnet ein Bild der Hoffnungslosigkeit. Dennoch versuchte er, anderen Mut zu machen, indem er zu kleinen, privaten Versammlungen einlud, bei denen er auch aus der Bibel las; gemeinsam beteten die Männer um die „Hilfe des Herrn“, und es muss ihm zumindest zeitweise gelungen sein, die Verzweiflung zurückzudrängen und der Hoffnung wieder Raum zu geben.
Den Kapitän von HMS Investigator, Robert McClure, beneidete Miertsching wahrlich nicht um seine Verantwortung für die 65 Männer: „Er zeigte immer besonders in Gegenwart der Officiere und Mannschaft den besten Muth und stärckste Hoffnung, aber in seinem Innern war es ganz anders; als ein erfahrener Seeman im Eismeer, wo er schon zum drittenmal war, kannte und wusste er vielmehr als irgend jemand auf dem Schiff; die vielen Gebete und Seufzer in seiner Kajüte und bei unsern einsamen Wanderungen auf dem Lande und Eise besagten viel mehr als er mit Worten äußerte„.
Den Männern blieb nichts weiter übrig, als sich dem Unausweichlichen zu stellen, „denn jede Hoffnung ist verschwunden, dieses Jahr aus dem eisigen Gefängnis erlöst zu werden.“ Miertsching ergänzt diese Feststellung mit einem Auszug aus George Bokers „A Ballad of Sir John Franklin“: „The winter went, the summer went, The winter came around; But the hard green ice was strong as death, And the voice of hope sank to breath“ [sinngemäß: Der Winter ging, der Sommer ging, der Winter kam zurück; aber das harte grüne Eis war stark wie der Tod, und die Stimme der Hoffnung sank zu einem Flüstern]. Sie mussten sich nun für ihren dritten Winter im Eis einrichten und das Schiff zum Winterquartier umrüsten …
Das Schiff kam nie mehr frei. Noch heute liegt das Wrack auf dem Grund der Mercy Bay. Mehr über das Schicksal der Mannschaft von HMS Investigator bei der Suche nach der verschollenen Franklin-Expedition, ihren dritten Winter im Eis, ihre Rettung und den Lebensweg von Johann August Miertsching erfährt man in unserem Buch „Weil ich ein Inuk bin„.
Vor genau 205 Jahren, am 21. August 1817, wurde der Oberlausitzer Sorbe Johann August Miertsching in Gröditz bei Weißenberg geboren. Wie er in seiner Jugendzeit und als junger Mann seinen Geburtstag beging, ist nicht überliefert. Es werden sicher heitere und glückliche Tage dabei gewesen sein, ob in Gröditz, in Kleinwelka oder auch bei den Inuit in Labrador.
Anders war es am 21. August 1848, an seinem 31. Geburtstag, als er mit schweren Herzen am Bootsanleger in Okak in Labrador stand und dem Ehepaar Herzberg nachschaute, seinen vertrauten Kollegen, die das Missionshaus verlassen hatten, um an Bord der Harmony nach dem weiter nördlich gelegenen Hebron zu reisen. Eigentlich wollten sie ja nach Deutschland zurückkehren, doch die Nachrichten über die revolutionären Ereignisse in Deutschland im Frühjahr, die mit dem Schiff angekommen waren, hatten sie abgeschreckt.
Schon zwei Jahre später befand sich Miertsching Bord von HMS Investigator, die auf der Suche nach der verschollenen Franklin-Expedition von Alaska her im Polarmeer unterwegs war und nun bei Pelly Island – nahe der Mündung des Mackenzie River – ankerte. Seinen Geburtstag feierte er hier in aller Stille gemeinsam mit zwei befreundeten Schiffskameraden – dem zweiten Schiffsarzt Piers und seinem „Bediensteten“, Korporal Farquarson.
Ein Jahr danach, 1851 (inzwischen hatten sie die Nordwestpassage gefunden!!!) verbrachte Miertsching seinen 34. Geburtstag in sehr niedergedrückter Stimmung am Ballast Beach auf der Nordseite von Banks Island, wo das Schiff einige Zeit vom Eis eingeschlossen war. In seinen seinen Aufzeichnungen bekannte er, dass er, zur Untätigkeit verurteilt, mit der „gnädigen Führung“ Gottes unzufrieden sei und ihm Geduld, Glaube, Liebe und Hoffnung fehlten. In der nutzlosen Wartezeit beschäftigte er sich immerhin mit dem Sammeln von Pflanzen und Fossilien.
Bei seinen dritten Geburtstag im Polarmeer – 1852 wurde er 35 Jahre alt – war die Situation nahezu hoffnungslos: Die Investigator war fest im Eis eingefroren, das auch im Sommer nicht aufbrach, und alle litten Hunger; einige waren an Skorbut erkrankt. Im Tagebuch erwähnte Miertsching die „niedergeschlagene Mannschaft“, über seinen Geburtstag vermerkte er nur knapp: „Ich verbrachte den heutigen Tag auf dem Lande, und wanderte einsam herum.„
Genau ein Jahr später befand er sich zwar gerettet an Bord von HMS Intrepid, doch auch diese trieb hilflos mit den Eisschollen umher, anstatt zielgerichtet nach England segeln zu können, und seine Hoffnung, endlich heimzukehren, schwand. Zusätzlich durch eine starke Erkältung beeinträchtigt, drückte er seine Stimmung im Tagebuch mit dem Vers eines Kirchenliedes aus, das oft bei Beerdigungen ertönte: „Ach wär ich doch schon droben, mein Heiland…„.
Hingegen gab es 1854, als er das fünfte Mal seinen Geburtstag im Polarmeer beging, beste Aussichten für die Heimkehr: die Eisdecke vor Beechey Island, wo man überwintert hatte, war bereits in Schollen zerbrochen, und davor lag offenes Wasser. Daheim angelangt, konnte er 1855 seinen Geburtstag endlich wieder mit Eltern und Geschwistern feiern. Ein Jahr später war er um den 21. August damit beschäftigt, eine Frau zu finden, die ihn bei seiner kommenden Entsendung als Herrnhuter Missionar nach Südafrika begleiten würde.
Seinen 40. Geburtstag, 1857, feierte er bereits dort, nämlich im nahe am Cape Agulhas gelegenen Elim, nun zusammen mit seiner Frau Clementine Auguste und den Elimer Missionarskollegen. Doch er war nicht ganz glücklich: Es plagten ihn schwere Zweifel über den Sinn seiner Tätigkeit, denn sie unterschied sich stark von seiner Arbeit als Missionar bei den Inuit 1844-49, die er als sehr sinnvoll und befriedigend empfunden hatte. In den folgenden Jahren erlebte seine Familie mancherlei Glück, aber noch viel mehr Leid. Das Auf-und-Ab im Leben Miertschings haben wir nun erstmals in dem biografischen Werk „Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – ein Lebensbild“ zugänglich gemacht, das vor zwei Wochen erschienen ist.
Das Werk ist überall im lokalen Buchhandel verfügbar, bzw. bestellbar.
„Heute schönes Wetter aber Windstille; – nördlich von uns ist offen Wasser, können aber ohne Wind nichts thun,“ schrieb Miertsching am 24. Juli 1851 ins Tagebuch. Die Crew von HMS Investigator hatte den Winter im Eis der Prince of Wales Strait verbracht, wo das Schiff zwischen riesigen Eisschollen gefangen war. Nach ihrer Winterstarre gerieten diese ab Mitte Juli in Bewegung und setzten dem Schiff mit harten Stößen gefährlich zu; es wurde zum Spielball der starken Gezeitenströmungen in der Wasserstraße. Offene Wasserflächen waren selten – das treibende Eis behinderte den von Kapitän McClure vorgesehenen Kurs nach Norden, und nun fehlte auch noch Wind in den Segeln.
Aus unserem Buch: „Das Schiff befand sich in der Nähe von Armstrong Point, einem markanten Punkt am östlichen Ufer der Prince of Wales Strait, den McClure nach dem Schiffsdoktor benannte. Das Auf-und-Ab der letzten Tage hatte bei Miertsching an den Nerven gezerrt, und er ergriff die Gelegenheit, zusammen mit dem Zimmermann Ford, der nutzbares Treibholz bergen wollte, und fünf Matrosen an Land zu gehen. Ford fand brauchbare Fichtenstämme, die er ins Boot laden ließ.“ Miertsching sah sich auf dem Land um und entdeckte alte Wohnstätten von Inuit – und Pflanzen.
Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen: „Nahe am Strand fand ich viele schneelose kleine Flächen, die mit Moos und Gras bewachsen waren; die weißen und gelben Blümchen standen herrlich in voller Blüthe. – Ich sammelte Pflanzen … und fand einige kleine Muscheln, die mir aber der Kapitän und der Docter auf eine sehr freundliche Art raubten, mit dem Versprechen, das ich nächstens wieder an’s Land gehen und mehr sammeln könnte.“ (Zitat aus Miertschings handschriftlicher Reise-Beschreibung) Allerdings wurde Miertschings Beschreibung in der Herrnhuter Druckausgabe seines Reisetagebuch auf die reine Sachinformation reduziert – keine Spur mehr von Begeisterung und guter Stimmung; die Textpassage mit dem „Raub“ der Muscheln wurde ganz gestrichen. – Das Sammeln von Pflanzen, das er bereits in Patagonien begonnen hatte, setzte Miertsching im Laufe der Arktisreise fort – ob auf Victoria Island, am Ballast Beach oder in der Mercy Bay von Banks Island. Insgesamt umfasste sein Herbarium etwa 4000 Pflanzen! Als die HMS Investigator im Eis zurückgelassen werden musste, glaubte er die Sammlung für immer verloren.
Auch wir waren davon überzeugt, bis unsere Recherchen uns eines Besseren belehrten. Wir stießen auf eine Spur, die uns schließlich nach London in die botanischen Sammlungen in KEW Gardens führte. Aus unserem Buch: „Eine zuvorkommende Mitarbeiterin begleitete uns mit viel Geduld durch die Sammlungsstandorte in dem fünfflügeligen Gebäude, in dessen ältesten Teil wir auf bewundernswert dekorativen gusseisernen Wendeltreppen quasi ins 19. Jahrhundert stiegen.“ Unter den über 7 Millionen Pflanzenpräparate wurden wir mehrfach fündig. Wenn Miertsching gewusst hätte, dass mindestens 40 Exemplare seiner verloren geglaubten Sammlung Bestandteil der Royal Botanical Gardens wurden, hätte er sich sicher sehr gefreut!
Der vor genau 200 Jahren, am 25.6.1822, viel zu früh verstorbene Dichter, Komponist und Jurist E.T.A. Hoffmann hatte gute Freunde, unter denen ihm einige hin und wieder Inspirationen zu seinen phantasievollen Werken lieferten.
Zum Berliner Freundeskreis des Künstlers gehörte Adelbert von Chamisso, der sich im Juli 1815 auf eine Weltreise begeben hatte, die bis 1818 andauerte. Auf Empfehlung von Hoffmanns Freund Hitzig hatte man ihn als Naturforscher – Botaniker und Zoologe – für die russische Expedition auf der Zweimast-Brigg „Rurik“ unter dem Kommando von Otto von Kotzebue berufen.
Die Rurik segelte zunächst von St. Petersburg nach Plymouth. Von dort sandte Chamisso 1815 einen Brief an Hoffmanns Freund Eduard Hitzig, ein geplantes Buchprojekt mit Hoffmann, Karl Wilhelm Salice-Contessa und ihn betreffend, das er nun nicht mehr beenden konnte. Von Plymouth aus reiste Chamisso – ähnlich wie 35 Jahre später Johann August Miertsching auf HMS Investigator – um Südamerika, von wo die Rurik allerdings Kurs auf Kamtschatka nahm. Seinem Freund Hoffmann hatte er die Idee zu einer skurrilen Erzählung im botanischen Umfeld hinterlassen, und nachdem Hoffmann sich drei Jahre später etwas fachkundig machte, entstand die Erzählung „Datura fastuaosa (Der schöne Stechapfel)“, die erst 1823 posthum veröffentlicht wurde.
Als die Rurik Petropawlowsk (Kamtschatka) erreicht hatte, konnte Chamisso endlich wieder Briefe senden – und natürlich schrieb er an seinen Freund Hoffmann. Der dänische Leutnant Wormskiold hatte hier die Rurik verlassen – zu Chamissos Erleichterung, denn er hatte als „freiwilliger Naturforscher“ neun Monate lang Chamisso mit seiner Eifersucht gequält, ganz anders als der andere Naturwissenschaftler an Bord, Eschscholtz, mit dem Chamisso gut zurecht kam. Sicherlich bot die komplizierte Beziehung zwischen Wormskiold und Chamisso die Anregung für Hoffmanns satirische Erzählung Haimatochare, die er auf Oahu (Hawaii) spielen lässt.
Die Rurik segelte im Juli 1816 weiter in die Beringstraße, wo verschiedene Orte an den Küsten Alaskas nach Teilnehmern der Expedition benannt wurden: Kotzebue Sound, Eschscholtz-Bay und Chamisso-Insel. Die Berliner Freunde sahen Chamisso schon am Nordpol, wovon eine scherzhafte Karikatur Hoffmanns zeugt.
Jedoch kehrte die Rurik dem Polarmeer bald den Rücken und segelte nach Hawaii, von wo aus Chamisso wieder an Hoffmann schrieb. 1817 ging es nochmals nordwärts, jedoch ordnete Kotzebue bei den St. Lorenz-Inseln die Rückkehr an, und über die Südsee und das Kap der Guten Hoffnung erreichte das Schiff 1818, nach drei Jahren Fahrt, wieder Europa und Russland. Ganz anders die Investigator mit Miertsching. Sie lief 1850 ebenfalls Hawaii an und segelte dann über den Kotzebue Sound ins Eismeer, wo die Besatzung vier Winter verbringen musste – und wo sich das Schiff heute noch befindet. Ob Miertsching wohl jemals Chamissos Buch über die Weltumseglung oder gar Hoffmanns Erzählungen gelesen hat?
Zum 50. Todestag des Meteorologen und Polarforschers Dr. Johannes Georgi
Johannes Georgi (14.12.1888-24.5.1972) gehörte wie Alfred Wegener zu den Wissenschaftlern, deren Erkenntnisse erst Jahrzehnte später der allgemeinen Öffentlichkeit in ihrer Bedeutung bewusst werden. Er war der erste in Europa, der die sogenannten Höhenwinde, heute als Jetstream bekannt, beobachtete.
Gegenwärtig gibt es kaum seriöse Wetterprognosen, die nicht auf den aktuellen Verlauf des Jetstreams eingehen – aber ohne dass dabei der Name Georgi fällt.
Georgi hat an mehreren Expeditionen nach Island und Grönland teilgenommen. Wissenschaftlicher Höhepunkt war die Überwinterung in Grönland in der zeitweiligen Forschungsstation Eismitte mit seinen Kollegen Dr. Sorge und Dr. Loewe 1930/1931.
Auf der Station in Grönland wurden erstmals ausgedehnte geophysikalische Messungen vorgenommen, doch der schwierige Verlauf der Expedition führte auch zum tragischen Tod von Professor Alfred Wegener im November 1930.
Die Beziehung der drei Überwinterer nach der Expedition steht exemplarisch für die politische Situation nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Sorge denunzierte den Juden Loewe, der daraufhin in „Schutzhaft“ kam. Glücklicherweise gelang Loewe jedoch später die Emigration nach England, und er überlebte den zweiten Weltkrieg mit Frau und Töchtern in Australien. Georgi zeigte, anders als Sorge, menschliche Größe, blieb in Kontakt mit Loewe und verteidigte ihn gegen Angriffe der Nazis. Sie blieben in Kontakt bis zu Georgis Tod.
Bei der Recherche zu unserem Buch über Johann August Miertsching stießen wir auf einen interessanten Brief Georgis an einen Urenkel Miertschings, in dem er auf eine erweiterte Neuauflage seines Buches „Im Eis vergraben“ von 1933 hinwies: „… ich habe für das Int. Geogr. Jahr 1957/8 das Buch durch Geophys. Einschübe u. Bilder erweitert, erschien 1955, Nachdruck 1957 bei F. A. Brockhaus Leipzig, ist dort sofort vergriffen gewesen und daher kaum in die BRD und ins Ausland gelangt. Leider hatte die DDR zu wenig Papier für einen vielfach gewünschten Neudruck.“ Dieses Ausgabe ist heute nur noch selten antiquarisch zu erwerben – und wenn, dann zu einem deutlich höheren Preis als die Erstausgabe von 1933.
Loewe veröffentlichte 1972 in der Zeitschrift „Polarforschung“ einen Nachruf auf Georgi, in dem er lobte, wie dieser unter teils extrem schwierigen Umständen seine wissenschaftlichen Arbeiten in der Arktis durchführte, und ihn zudem als einen „unermüdlichen Verfechter des Rechtes“ würdigte.
Vor 300 Jahren, am 5. oder 6. April 1722, erreichten drei Schiffe aus Europa eine weit abgelegene Insel im Pazifik, die man, da gerade Ostern war, Osterinsel nannte.
Die Schiffe standen unter dem Befehl des Niederländers Jakob Roggeveen. An Bord war jedoch auch ein junger Seemann aus Rostock, Carl Friedrich Behrens.
„Ich war der Erste, der bey der Anlandung unserer Leute, die Insul mit seinen Füssen betrat“ schrieb er später in seinem Bericht „Reise durch die Süd-Länder und um die Welt“, der 1735 in Leipzig veröffentlicht wurde.
Die in polynesischen Sprachen als „Rapa Nui“ bekannte Insel war bereits seit langem besiedelt. Wegen ihrer isolierten Lage erregte der unerwartete „Besuch“ der Fremden viel Aufsehen. Die Neuankömmlinge verstanden sich allerdings nicht als Gäste, sondern als Eroberer. Als immer mehr Neugierige herbei strömten und sie sich bedrängt fühlten, schoss man einfach auf die Inselbewohner. Behrens hielt fest: „Es wurden hier viele erschossen….; die Todten abzuholen, kamen sie Hauffen-weiß, und brachten von allen Früchten und Gewächsen Praesente mit, damit wir desto eher solten abfolgen lassen. Die Verwirrung dieser Leute war überaus groß: Ja ihre Kindes-Kinder werden inskünfftige allda wissen zu erzehlen.„
Das „Zeitalter der Entdeckungen“ war gleichzeitig das der gewaltsamen Kolonialisierung indigener Völker und ihrer Heimat, was uns als Nachfahren dieser „Entdecker“ noch sehr lange beschäftigen wird. Carl Friedrich Behrens bedauerte damals zumindest den Tod des Insulaners, der sie als erster freundlich begrüßt hatte: „… auch lag der Mann, welcher ehedem bey uns gewesen mit unter den Todten, welches uns sehr jammerte…„.
Von Behrens stammt auch die erste Beschreibung der Monumentalskulpturen, Moai genannt, die bis heute als das „Markenzeichen“ von Rapa Nui gelten: „ … Götzenbilder, welche allda in einer grossen Menge am Strande aufgerichtet stunden; vor welchen sie niederknieten und sie anbeteten. Diese Götzen-Bilder waren alle aus Steinen gehauen, und der Form nach, wie ein Mensch, mit langen Ohren, oben auf dem Haupt mit einer Krone gezieret, doch alles nach der Kunst gemacht, worüber wir uns nicht wenig verwunderten.„
Die
markanten Tafeln mit den seltsamen Schriftzeichen, Rongorongo
genannt, erwähnte Behrens allerdings nicht, vermutlich hatte man sie
den Seeleuten nach deren „freundlichen Willkommensgrüßen“ gar
nicht erst gezeigt. Über die Herstellung der Skulpturen weiß man
inzwischen mehr, und über ihre Bedeutung gibt es verschiedene
Hypothesen. Die Rongorongos aber haben ihr Geheimnis bis heute
bewahrt.
Behrens überlebte die Weltreise und ließ sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland nicht mehr in seiner Heimatstadt, sondern in Nürnberg nieder, wo er vor 1750 starb.
Im Sommer wird unser neues Buch im Berliner Lukas Verlag erscheinen. Der Oberlausitzer Sorbe Johann August Miertsching war als Einziger aus Deutschland an der Entdeckung der legendären »Nordwestpassage« beteiligt. Wir folgten seinen Spuren um die halbe Welt, spürten bislang unbekannte Dokumente auf – und fanden einen Inuk. („Inuk“ = Inuktitut für „Mensch“). Mehr dazu unter der Rubik Miertsching.
Franz Fühmann, geboren am 15. Januar 1922 – vor 100 Jahren
In einem Land, das viel wunderbunter war als das Grau und das eindeutige Schwarz-oder-Weiß, das die darin sehen wollen, die heute gern die Deutungshoheit über die Geschichte geltend machen, begegneten wir einem der bedeutendsten deutschen Dichter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. So einige Male.
Meine erste Begegnung, mit 14: an einem sonnigen Herbsttag überbrückte ich die Zeit zwischen Unterrichtsende und Busabfahrt in der elterlichen Buchhandlung, wo sich mein Vater mit einem beleibten Herrn unterhielt, dessen etwas schäbig aussehender alter Rucksack mir auffiel, der augenscheinlich voller Bücher war; daneben stand ein Beutel voller Äpfel aus unserem Garten. Der Mann wurde mir als der Schriftsteller Franz Fühmann vorgestellt, der gleich mit dem Zug nach Berlin fahren würde. Im Deutschunterricht hatten wir einst ein Gedicht von ihm behandelt, „Der Apfelbaum“, und ich sagte ihm das. Daraufhin seufzte er und erzählte, daß schon einige Kinder an ihn geschrieben hatten wegen dieses Gedichtes, über das sie Aufsätze schreiben sollten: Was hat der Dichter damit sagen wollen, was hat er sich bei diesem Gedicht gedacht? Und seine Antwort war: Gar nichts habe ich mir dabei gedacht, als ich es geschrieben habe. Überhaupt nichts!
Wenige Jahre später erwarteten wir ihn zu einer Buchlesung. Ein Taxi kam, ein großer hagerer Mann stieg aus, zahlte, packte seine Reisetaschen und überquerte zielgerichtet die Straße – Franz Fühmann! Beinahe hätten wir ihn nicht erkannt: wo war seine Körperfülle geblieben? Tja, sagte er zu uns, ich bin dabei, mir das übermäßige Essen abzugewöhnen. Ich hab mir das Trinken abgewöhnt, das Rauchen, meine Partei habe ich mir abgewöhnt, und nun brauche ich mir bloß noch den sozialistischen Realismus abzugewöhnen. – Nach der Lesung aus „22 Tage oder das halbe Leben“ gab es eine Diskussion, und jemand fragte ihn, warum er im Buch formalistische Spielereien betreibe. Fühmanns Antwort – verblüffend und ohne Umschweife: Weil’s mir Spaß macht! – Das Buch habe ich leider erst danach gelesen. Aber dann immer wieder.
Seine Streitgespräche mit meinem Vater sind mir in Erinnerung, über Dichtung, über Goethe, den mein Vater fast heilig hielt, und über Modernes, das er nicht gelten lassen wollte – und natürlich widersprach Fühmann ihm vehement.
Berlin, Jahre danach: Er besuchte unsere kleine Familie. Wir erwarteten Gespräche über sein neues Buch, doch zunächst bevorzugte er es, im Kinderzimmer auf dem Fußboden liegend mit unserem Vierjährigen zu spielen. Später schrieb er uns eine Widmung in „Vor Feuerschlünden“ – aber erst, nachdem er zuvor durch die Seiten geblättert und handschriftlich einige Fehler korrigiert hatte!
Erinnerungen: Märkisch-Buchholz, die „Wandzeitung“ hinter seinem Schreibtisch, und die mit Einklebungen versehenen Manuskriptseiten neben der Schreibmaschine. Wie er vor Wieland Försters Skulptur „Paar“ in seinem Garten vom Winkelmaß und Kreuzweg der Geschlechter sprach. Unser Staunen über die Garage voller Bücher. Und immer wieder Obst: Die Stiege voller Pfirsiche, die er auf unserem Weg zum Bahnhof in Königs Wusterhausen kaufte; die Erdbeeren, die meine Schwester ihm ins Krankenhaus brachte.
Noch mehr Erinnerungen: Seine bedachtsam ausgewählten Postkarten, deren Bildmotive immer zu seinen Mitteilungen passten. Die Lesung in der Akademie der Künste, wo er mich neben Marlies Menge plazierte. Die Lesung für unsere FDJ-Gruppe an der Humboldt-Uni, die urplötzlich verschoben wurde, wohl weil die „Sicherheitsorgane“ ihr Veto eingelegt hatten – wegen Bedenken über zuviel Öffentlichkeit für einen Autor, der auf ihrer Schwarzen Liste stand. Eine im Berliner Veranstaltungsmagazin angekündigte Lesung in einem Jugendklub im Prenzlauer Berg, die „wegen Wasserschaden“ nicht stattfand, von der der Autor aber gar nichts wusste: man wollte wohl nur den Anschein erwecken, dass er ganz normal öffentlich auftreten konnte.
Wäre er doch 100 Jahre alt geworden! Dann könnte morgen sein Geburtstag gefeiert werden. Aber er starb viel zu früh im Sommer 1984, noch keine 62 Jahre alt. Ein grausamer Verlust. Dennoch ist das literarische Werk, das er hinterließ, gigantisch, wunderbar vielfältig und immer wieder voller überraschender Entdeckungen.
Unser Freund Hans-Ludwig Blohm lebt nicht mehr. Was für ein Verlust – für seine Familie und für alle, die das Glück hatten, ihn kennen zu lernen. Hans wurde 94 Jahre alt.
Wir begegneten ihm zum ersten Mal in Labrador und trafen ihn danach mehrfach in Ottawa und auch in Berlin. Der Wahl-Kanadier hat seine norddeutschen Wurzeln nie vergessen.
Nur selten begegnet man einem solchen Optimisten par excellence. Hilfsbereit, immer freundlich, begeisternd, ein begnadeter Fotograf und ein Menschenfreund besonderer Art.
Eines seiner wichtigsten Bücher ist „Die Stimme der Ureinwohner – Der kanadische Norden und Alaska“, in dem er seinen wunderbaren Fotos engagierte Texte zur Seite gestellt hat.
Mach’s gut Hans, Du wirst uns unvergessen bleiben!
Heute, am 28. November 2021, jährt sich zum 90. Mal der Geburtstag des großartigen Künstlers und begnadeten Geschichtenerzählers Tomi Ungerer, der wohl vor allem ein Humanist im Sinne von „nichts Menschliches ist mir fremd“ war.
Für einige Jahre lebte der selbsterklärte „Wanderer“ mit seiner Familie in Nova Scotia an der Ostküste Kanadas. Hier suchte er Abstand von New York, wo es ihm aus vielfältigen, u.a. auch aus politischen Gründen nicht mehr gefiel.
Seinen Aufenthalt in Nova Scotia verarbeitete Tomi Ungerer fern aller Kanada-Romantik in dem überaus lesenswerten Büchlein „Heute hier, morgen fort“, das alltägliche und skurrile, zumeist recht amüsante Begebenheiten erzählt. Es ist vollgepackt mit wunderbaren Zeichnungen aus dem Alltag der Familie und der umgebenden Landschaft und Tierwelt.
Die englische Ausgabe trägt den Titel „Far out isn’t far enough“.
Der Bildband „Slow Agony“ enthält Zeichnungen, die Umwälzungen im Nova Scotia der 1970er Jahre widerspiegeln, die mit dem Niedergang vieler Häuser, Dörfer und Städtchen verbunden waren; lange bevor Kanadier und Reisende aus den USA und Europa die Halbinsel als Ferienort entdeckt hatten. Da war Tomi Ungerer längst wieder nach Europa gezogen, wo er in Irland ein neues Domizil fand.
Als vor einigen Jahren Ungerers ehemalige Farm an der South Shore Nova Scotias zum Verkauf stand, geschah das mit dem Hinweis auf den berühmten Vorbesitzer. Offenbar hatte man ihm seine kritische Sicht auf Nova Scotia nicht krumm genommen.
Es ist Polar Bear Week –Eisbär-Woche, daher hier einige Auszüge aus unserem Buch „Eisbären – Wanderer auf dünnem Eis“
„… Erste figurative Skulpturen aus Stein und Elfenbein werden der Kultur der Dorset-Inuit (ca. 1000 v. u. Z. Bis 1000 u. Z.) zugeschrieben. …“ „… Seit den 1950er Jahren entstand die heute international nachgefragte Inuit-Kunst („Inuit Art“), die … auch in den Galerien mit zeitgenössischer Kunst im Süden ausgestellt und verkauft wird und in den Sammlungen moderner Kunst der Museen ihren Platz fand. Anders als man es vielleicht vermuten würde, fertigt nicht jeder Inuit-Kunstler Eisbären-Skulpturen an, und nur gelegentlich gibt es Grafiken, die den König der Arktis thematisieren.“
„Tony Oqutaq (geb. 1977), auch er in Cape Dorset ansässig, gehört zur dritten Generation der Inuit-Künstler. Er hat sich besonders mit seinen kraftvollen Eisbären-Skulpturen einen Namen gemacht, denen die intensive Beobachtung der Bären in der freien Natur anzusehen ist. Man kann die gewaltige Kraft der Bären geradezu fuhlen, wenn man die Figuren in die Hand nimmt, Körper und Gliedmasen abtastet und so die in der Skulptur „eingefrorene“ Bewegung erspürt. …“
„Darstellungen von Eisbären finden sich auch auf vielen Grafiken und Wandbehängen von Inuit-Künstlern, die das Leben und das Uberleben in der Arktis zum Thema haben. Das sind oft Jagdszenen, wie in dem Textildruck von Helen Kalvak, …“
„… Es war wohl dieser Bericht von McClintock [über das Schicksal der Franklin-Expedition], der den englischen Maler und Bildhauer Sir Edwin Henry Landseer (1802-1873), Hofmaler von Queen Victoria, zu einem der ungewöhnlichsten Gemälde des 19. Jahrhunderts anregte, das bis heute die Gemüter vieler Leute bewegt: ‚Man Proposes God Disposes – Der Mensch denkt, doch Gott lenkt‘. Das Gemälde zeigt eine Szene, in der sich zwei Eisbären über einem Bootswrack im Packeis befinden und offensichtlich nach Nahrung suchen …“
„Ullrich Wannhoff (geb. 1952) ist ein deutscher Maler und Grafiker, aber auch Ornithologe und Reisender, der sich mit den östlichen Regionen Russlands, besonders mit den Beringinseln und Kamtschatka beschäftigt. … Er verarbeitete seine Erlebnisse in Hunderten Zeichnungen, Collagen und Gemälden und als Autor von Büchern. In einer Serie von Bildern setzte er sich mit Artefakten der Volker um den Nordpazifik auseinander. In einem dieser Bilder bringt er in expressiver Formensprache und starken Farben eine kleine stilisierte, aus Elfenbein geschnitzte Eisbärenfigur, wie sie unter anderem auf der St. Lorenz-Insel in der Beringsee gefunden wurden, mit einer Schamanentrommel zusammen …“
Mehr zum Thema „Eisbären in der Kunst“ im Kapitel 6 unseres Buches „Eisbären – Wanderer auf dünnem Eis“, MANA-Verlag 2014, S. 232 bis 255. Erhältlich in der Buchandlung Ihres Vertrauens oder online.