Das Buch von Robert Kindler verdeutlicht sehr gut die Kämpfe des 19. Jahrhunderts um die Ressourcen und die Macht – mit dem Fokus auf dem Verhältnis der Kommandeur-Inseln und Pribylov-Inseln zu den Ländern Russland, USA, Japan, Kanada und England. Das „weiche Gold“, wie man allgemein die Pelze in Russland bezeichnete, weckte im 18. Jahrhundert und bis in die Gegenwart große Begehrlichkeiten.
Die Kommandeur-Inseln sind wie ein Brennglas für das große Land. Das „Ernten“, wie man das Robbenschlagen bezeichnet, betrifft alle Peripherien Russlands bis heute, wo die Ortschaften an den Rändern, aber auch selbst im Landesinneren vernachlässigt wurden, auch während Sowjetzeit wurden noch viele Dörfer aufgegeben. Reformen, die unter Peter I., Katharina II. und Alexander II. begannen, blieben bis heute stecken. Archaisches Wirtschaften ist zu großen Teilen bis heute erhalten. Das Westeuropäische Wirtschaften bleibt den meisten Russen verschlossen, weil Denunziation, Diskriminierung, Vertrauensverlust, Unfähigkeit, Rechtlosigkeit und Korruption es nicht zulassen.
Mit enorm fleißigen Recherchen an vielen Orten kann der Autor deutlich machen, wie komplex und spannend alles verwoben ist. Die Recherchen fanden in erster Linie an Hand von Dokumenten und schriftlichen Originalquellen statt, und leider kommt dadurch – zumindest für mich – der Bezug zu den Menschen und den örtlichen Gegebenheiten zu kurz.
Den Titel „Robbenreich“ finde ich nicht besonders glücklich gewählt, weil die meisten dabei an Hundsrobben, an Seehunde denken. Hier aber geht es ausschließlich um die Nördlichen Seebären (Callhorhinus ursinus), die zur Familie der Ohrenrobben gehören. Es wäre gut, wenn Historiker sich mehr mit Zoologen austauschen würden.
Über das Robbenschlagen wurde viel in russischer ,aber auch in englischer Sprache publiziert und mit vielen Tabellen unterlegt. Für den unbedarften Leser wären Auszüge von Tabellen hilfreich gewesen.
Ich vermisse im Buch zudem die hochinteressanten Lebensläufe wichtiger Personen, die im Buch immer wieder auftauchen, wie Grebnetzki, Stejneger, Sokolnikow oder Suvorov. Außerdem fehlen mir die großartigen Zeichnungen und Aquarelle von H.W. Elliott (1846–1930), der auf den Pribylov-Inseln tätig war und sich für den Schutz der Liegeplätze der Tiere einsetzte.
Kindlers Bezug zu den Unangan (Aleut*innen), aber auch zu den Russen beruht hauptsächlich auf der gelesenen Literatur. Originalzitate hätten das Buch menschlich verständlicher gemacht als bloße kühle Recherche – die jedoch sehr gut ist, das steht außer Frage!
Ich selbst stand beim „Ernten“ der Seebären auf der Medny Insel, wo Naturschutz und die russische Pelzindustrie Hand in Hand arbeiteten, im blutigen Wasser. Die Tage danach waren von Traurigkeit untermalt.
Der Autor kennt offenbar nicht die vielen kleinen Interessengruppen, die heute das Leben auf der Insel zu Hölle machen können: Die Grenzsoldaten in einer eigenen Einrichtung mit Umzäunung in Nikolskoje, der FSB, die Russ*innen, die Unangan (Aleut*innen), die zerstrittenen Familien, die Administration vor Ort, die Administration der Zentralregierung in Moskau, die Naturschutzleute und die Naturwissenschaftler. Jede Gruppe hat andere Interessen.
Es gibt heute „reiche“ russische Naturwissenschaftler, die von der amerikanischen Industrie bezahlt werden und auch in der USA leben, aber für Russland im Sommer vor Ort arbeiten (zur Erforschung von Meeressäugern) und die ich auch begleiten durfte. Dann die „armen“ Wissenschaftler, die von Moskau bezahlt werden. Der Kleinkrieg ist vorprogrammiert.
Die Fellproduktion an der Pazifikküste fiel nach 1991 in Schritten zusammen. In Nikolskoje wurden etwa 2002, mit der Gründung der Naturschutzzonen, die Nerzfarm und die Jagdgenossenschaft aufgegeben. Die Bewerbung bei der UNESCO als Weltnaturerbe in den 1990er Jahren fiel durch.
Das Schlimmste was nun passieren kann, wäre, wenn die Unangan (Aleut*innen) und Russ*innen von der Insel evakuiert werden: dann steht dem Raubbau Tor und Tür offen. In der Zeitschrift „Pogrom“ hatte ich schon 1996 einen Artikel über die Folgen einer Evakuierung angesprochen. Die kleinen Grenztruppen haben Null Interesse, die so gut gemeinte Naturschutzzonen zu überwachen. Private und staatliche Fischereifirmen hätten guten Zugriff, ohne belangt zu werden.
Die ökologischen Zusammenhänge zwischen Menschen, Fischen, Seebären, Kolonien der Seevögel und andere Meeressäugern sind dicht und komplex miteinander verwoben und lassen sich kaum einzeln sezieren. Trotz dieser meiner teils kritischen Anmerkungen: das Buch ist absolut lesenswert, und ich kann es nur sehr empfehlen!
Robert Kindler, Robbenreich – Russland und die Grenzen der Macht am Nordpazifik Hamburger Edition, 2022, 464 Seiten, gebunden, 11 Abb., 5 Karten, ISBN 978-3-86854-359-9, 45€
Lieber Herr Wannhoff, haben Sie vielen Dank für Ihre Besprechung. Ich stimme vielen Ihrer kritischen Anmerkungen hinsichtlich der prekären Gegenwart und schwierigen Zukunftsperspektiven der Kommandeurinseln völlig zu; es ist allerdings auch nicht das Anliegen meines Buches gewesen, diese Situation auszuleuchten.
Ich würde mich freuen, wenn wir gelegentlich einmal überlegen könnten, gemeinsam etwas zu den Inseln zu machen.
Beste Grüße
Robert Kindler