Am 4. Juni 1857 brach Roderick MacFarlane, Angestellter in der Niederlassung Fort Good Hope der Hudson’s Bay Company am Mackenzie River, zu einer Bootsfahrt in den Norden auf.
Er wollte endlich in direkten Kontakt mit den Inuvialuit – einem Inuit-Volk – treten. Ihn begleiteten sechs Männer, darunter zwei frankokanadische „Voyageurs“ und vier Angehörige der First Nations, vermutlich Satuh Dene. Auf Seen und Flüssen und über viele Portagen suchten sie einen Weg nordwärts zum „Begh-Ula River“ (Anderson River), den sie eine Woche später erreichen. Hier war das Eis bereits aufgebrochen. Die Satuh Dene, die hier ihre Fischgründe hatten, trieb gelegentlich Handel mit den Inuvialuit weiter im Norden.
Flussabwärts auf dem Anderson River kam MacFarlane mit seinen Leuten nunmehr schnell voran und erreichte schon nach zwei Tagen einen Siedlungsplatz der Inuvialuit. Über einen Dolmetscher versuchte er, diese zum zukünftigen Handel mit der Hudson’s Bay Company zu überreden, was ihm offenbar gelang.
McFarlane hatte aber noch ein zweites Anliegen: er wollte etwas über den Verbleib der Berichte von Kapitän McClure erfahren. Als 1850 die Crew von HMS Investigator im August bei Cape Bathurst auf eine Gruppe von Inuvialuit traf, übergab der Kapitän mithilfe seines Übersetzers Johann August Miertsching dem Elder* Kenalualik ein Bündel mit Berichten für die britische Admiralität und Briefen. Er bat darum, diese an die Hudson’s Bay Company in Fort Good Hope weiterzuleiten.
„Der Kapitän zweifelte, ob die Briefe jemals London erreichen würden, denn die Männer hatten erzählt, dass sie lediglich mit den sogenannten Locheaux oder »Hare Indians« (sie selbst bezeichneten sich als Satuh Dene) Handel treiben; diese wiederum würden allerdings mit der Hudson’s Bay Company im Süden handeln, aber es war eben kein direkter Weg. Miertsching war jedoch zuversichtlich, denn Kenalualik hatte ihm versprochen, sein Bestes zu tun, um die Post zu befördern.“ (Zitat aus unserem Buch „Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – Ein Lebensbild„). Doch McClure schien mit seiner Skepsis Recht behalten zu haben, denn als er 1854 nach London zurückgekehrte, musste er feststellen, dass die an Kenalualik übergebene Post nicht bei der Admiralität eingetroffen war.
McFarlanes Bemühungen um das vermisste Postbündel hatte zunächst keinen Erfolg: die Inuvialuit schienen wohl nichts davon zu wissen, woran er zwar aufgrund ihrer Reaktionen – Minen und Gesten – einige Zweifel hatte, doch er war auf Übersetzer angewiesen und konnte zunächst nichts ausrichten. Auf seinem Rückweg erforschte er noch den Anderson River flussaufwärts, bevor er über den Lake Colville am 14. Juli wieder nach Fort Good Hope zurückkehrte.
Auch in den folgenden Jahren, als er einige Winterreisen nach Norden unternahm, fragte McFarlane wiederholt nach dem Bündel – ohne Erfolg. 1861 wurde schließlich am Anderson River ein Handelsposten, Fort Anderson, errichtet. Als MacFarlane von hier aus im Februar 1862 das Winterlager einer anderen Inuvialuit-Gruppe besuchte und seine übliche Frage stellte, wusste man dort sogleich Bescheid. Es stellte sich heraus, dass Kenalualik bereits lange vor 1857 verstorben war. Wie es Tradition war, hatte man sein persönliches Eigentum, aber auch das Bündel mit der Post ins Grab gelegt! Es dauerte noch einige Wochen, bis es aus dem Grab geborgen werden konnte, aber am 5. Juni 1862, fünf Jahre nach MacFarlanes erster Reise zu den Inuvialuit, kam einer von ihnen nach Fort Anderson und übergab das nahezu unversehrte Paket.
Schließlich – mit 12 Jahren Verspätung – kam die so lange im arktischen Boden vergrabene Post, nunmehr befördert über Port Simpson und Red River (Winnipeg), 1862 in London an.
In diesem Bündel befanden sich auch Privatbriefe, darunter ein Brief Miertschings an seine Familie, seine Freunde und die Leitung der Brüdergemeine. Wir glaubten unseren Augen nicht zu trauen, als wir 2017 überraschend diesen zuvor völlig unbekannten Brief in einer Ablage im Unitätsarchiv in Herrnhut entdeckten! Der Zufallsfund brachte uns auf die Spur dieses bemerkenswerten postalischen Umwegs über das Grab eines Inuk. – Zu diesem Brief später mehr.
Übrigens erwarb McFarlane von den Inuvialuit am Anderson River einige Sammlerstücke – darunter die bisher älteste bekannte graphische Inuit-Kunst in Kanada, mit Farbe auf Holzbretter gemalt.
* („Ältester“, eigentlich: erfahrenste Person, eine Art gewählter temporärer Anführer)