Ein Arktisreisender aus Dorfschellenberg in Sachsen
reblogged vom Juli 2016 – You will find an English version here.
Der Geburtsort von Roderich Schneider, Dorfschellenberg, ist heute längst eingemeindet (Leubsdorf). Unweit der auf alten Stadtansichten erkennbaren Kirche lag die Baumwollspinnerei Trübenach & Schneider. Ein Sohn des Miteigentümers, der am 29. Juni 1853 geborene Roderich Robert Schneider, wanderte 1870 aus unbekannten Gründen nach Amerika aus. Vielleicht gab es für ihn – als nicht Erstgeborenen – keine berufliche Perspektive im väterlichen Unternehmen.

Anders als viele Emigranten aus Deutschland verlor er nicht den Kontakt zur Familie und zur Heimat. Er besuchte sie sogar 1873 und 1878. Bei der zweiten Reise hätte er beinahe das Leben verloren, als das Passagierschiff Pommerania vor England von einem Segler gerammt wurde und sank. Der junge Schneider hatte Glück und überlebte. Vielleicht hatten ihm dabei auch seine als Seemann auf Handelsschiffen gesammelten Erfahrungen geholfen.

Im Frühjahr 1879 kehrte er in die USA zurück und meldete sich zum Militärdienst. Vermutlich erfuhr er dort von der geplanten Nordpolexpedition unter der Leitung von Leutnant Adolphus W. Greely. Obwohl er für den Einsatz zunächst nicht vorgesehen war, gelangte er infolge der Desertion eines Teilnehmers doch noch in die Mannschaft.

Schneider war nicht der einzige deutsche Expeditionsteilnehmer – sechs weitere waren in Deutschland geboren. Das war in dieser Zeit nicht ungewöhnlich; auch andere amerikanische Arktis-Expeditionen, wie die von Charles Francis Hall oder die von George W. De Long, hatten deutschstämmige Teilnehmer. Es lag allerdings nicht an ihnen, dass gerade diese drei Expeditionen mehr oder weniger im Desaster endeten.

Die Lady Franklin Bay Expedition unter Greely erwischte es besonders schlimm. Nur sechs der 25 Teilnehmer überlebten. Nachdem das angekündigte Versorgungsschiff ausgeblieben war, hatten die Männer sich von Fort Conger im Norden von Ellesmere Island aus nach Süden begeben. Nach einer mehr als 500 km langen Odyssee konnten sie sich auf der unwirtlichen Insel Pim Island vor dem Wintereinbruch retten.

Tragischerweise mussten sie feststellen, dass die hier erhofften Versorgungsgüter nicht in ausreichender Menge vorhanden waren, um den Winter zu überstehen. Die Nahrung wurde sofort rationiert, eine provisorische Hütte gebaut und die Jagd zur Ergänzung der äußerst knappen Reserven aufgenommen. Die Details des Überlebenskampfes kann man in Leonard F. Guttridges Buch „Die Geister von Cape Sabine“ nachlesen.

Im Januar 1884 starb der erste Teilnehmer. Hunger und Krankheiten rafften einen nach dem anderen dahin. Zunächst waren die Leichen noch bestattet worden, später fehlte auch dazu die Kraft. Die Hungernden stahlen sich gegenseitig die Nahrung, die teilweise bald nur noch aus ledernen Kleidungsresten bestand. Es kam zu Kannibalismus. Einer der Teilnehmer, der Hannoveraner Carl Heinrich Buck, wurde sogar wegen Nahrungsdiebstahl erschossen. Die Geschehnisse sind nicht vollständig aufgeklärt – weder das amerikanische Militär als Träger der Expedition noch die Überlebenden hatten ein Interesse daran, dass die ganze Wahrheit ans Licht kam. Bis heute blieben viele Details im Dunklen.

Nur wenige Tage vor dem ansonsten wohl sicheren Tod der Expeditionsteilnehmer erreichten Suchschiffe Pim Island und fanden noch sieben Überlebende; doch einer von ihnen starb wenige Tage danach. Roderich Schneider hatte es nicht geschafft. Er starb leider bereits vier Tage vor dem Eintreffen der Rettungsschiffe am 18.6.1884. Sein Leichnam wurde nahe dem von Carl Buck abgelegt und nur durch Zufall gefunden.

Schneiders Geige, die er im Fort Conger zurücklassen musste, wurde später wieder in die USA gebracht, doch ihr Verbleib ist heute unbekannt. Sein Tagebuch fand man Monate später zufällig in Einzelteilen am Ufer des Missisippi. Warum sich dieses Tagebuch nicht in den offiziellen Expeditionsunterlagen befand, wurden nie geklärt. Man hörte damals: „Offensichtlich wurden nicht nur die Leichname, sondern auch Tagebücher gefleddert.“

Am 19. Juli 1884 erreichten die Rettungsschiffe mit den in Tanks eingeschlossenen Leichenresten St. John’s in Neufundland. Die Toten wurden in die USA gebracht und gemäß dem Wunsch der Hinterbliebenen bestattet. Auf Verlangen der Eltern von Roderich Schneider wurde sein Leichnam nach Chemnitz überführt und dort bestattet. Neben dem Grabmal befindet sich noch heute ein Gedenkstein mit der Inschrift:

„Ein wackrer Seemann ruht in heimathlicher Erde
Hier aus von hartem Kampf, von Mühsal und Beschwerde.
Den Süden sah er, wo die Palmen wehn.
Er sah das ewig eisbedeckte Meer im Norden;
Einmal gerettet schon vom Untergehn,
ist nun beschworner Pflicht zum Opfer er geworden.”
Siehe auch „Das Mysterium um die Toten von Pim Island“ und „Franz Joseph Lang – ein Arktisreisender von der Schwäbischen Alb„.