reblogged vom 24. Oktober 2012 – English version here.
Man wollte wohl Leutnant Bedford Pim für die Rettung der Besatzung der HMS Investigator, den Entdeckern der Nordwestpassage, ehren, als man einer kleinen Insel vor Ellesmere Island im hohen Norden Kanadas seinen Namen gab. Er wird wohl nicht beglückt gewesen sein, als er das hörte, denn gerade auf und bei Pim Island waren 18 Mitglieder der Lady Franklin Bay Expedition von Leutnant Adolphus Greely 1884 unter tragischen Umständen gestorben.
Über diese Unglücksexpedition sind viele Veröffentlichungen erschienen, die mehr oder weniger intensiv drei Themenkreise umfassen: die Inkompetenz des Militärs zur Führung einer wissenschaftlichen Expedition, die den tragischen Hungertod der meisten Teilnehmer zur Folge hatte; der Versuch der Vertuschung von Kannibalismus im Kampf um das Überleben; und die Hinrichtung eines Teilnehmers wegen des Diebstahls von Nahrungsmitteln.
Wir erreichen Pim Island – im Smith Sound zwischen Ellesmere Island und Grönland – Mitte September, zur gleichen Jahreszeit wie die Mannschaft von Greely im Jahre 1883. Tief hängende Wolken verwehren den Blick auf die Insel. Es hat geschneit, mehr als 20 cm Neuschnee haben der Landschaft eine bedrückende Einförmigkeit verliehen, durchbrochen nur von einzelnen tiefdunklen Felsen. Der Himmel ist grau, Farbe ist fast vollständig verschwunden, und die allgegenwärtige Düsternis macht die schrecklichen Ereignisse von 1884 erahnbar. Im Gegensatz zu den damals von monatelangem Hunger Geschwächten sind wir aber gut gesättigt, die Temperaturen sind mild, und das in einiger Entfernung liegende arktiserprobte Schiff gibt uns Sicherheit.
Wir stapfen durch den Schnee zur Ruine des Camps Clay, das sich Greely und seine Leute aus den Steinen der Umgebung gebaut hatten. Als Abdeckung diente eines der Boote und Segeltuch. Grassoden, wie von den Inuit zur Abdichtung bevorzugt, gibt es auf diesem Eiland nicht. Unvorstellbar, dass dieses winzige Camp 25 Mann Platz geboten hatte. Einzige Lichtquelle in der Polarnacht war eine Funzel gespeist mit Robbenöl. Nach vier Monaten starb der erste, und knapp drei Monate später starben dann einer nach dem anderen, bis am 22.6.1884 plötzlich unerwartete Rettung eintraf. Von den 25 Männern waren nur noch sieben am Leben, und nur sechs schafften es bis nach Hause.
Am 6.6.1884 wurde auf Befehl Greelys der Soldat Charles Henry hingerichtet, der mehrfach beim Diebstahl von Lebensmitteln ertappt worden war. Ein ungewöhnliches Urteil und in der Erforschung der Arktis wohl einmalig. Ungewöhnlich deshalb, weil Henry nicht der einzige Dieb war und weil Mundraub eigentlich mildernde Umstände geltend macht. Seltsam aber war vor allem der Versuch des Vertuschens der Hinrichtung, was zu vielen Spekulationen führte.
Charles Henry, ein aus Hannover stammender Immigrant, dessen richtiger Name Karl Heinrich Buck war, erhielt nach Rückführung des Leichnams sogar ein Begräbnis mit militärischen Ehren. Erst langsam sickerten Nachrichten über die wirkliche Todesursache Henrys sowie auch Berichte über Kannibalismus durch. Wie die Untersuchung durch die Rettungsmannschaft ergeben hatte, war bei sechs Leichnamen Fleisch entnommen worden.
Bis heute wurden die damaligen Ereignisse nicht vollständig aufgeklärt, was der Tatsache geschuldet ist, dass neben Greely auch die drei an der Hinrichtung Henrys beteiligten Soldaten (darunter zwei weitere Deutsche) zu den Überlebenden der Expedition gehörten. Sie hatten sich geschworen, über den Hergang der Hinrichtung Stillschweigen zu bewahren. In den Jahren nach der Rettung der sechs Männer verschwanden Unterlagen und Beweisstücke. Der letzte der an der Hinrichtung Henrys Beteiligten, David Legge Brainard, starb als hochdekorierter Brigadegeneral erst 1946. Er nahm die Wahrheit über die Umstände der Hinrichtung Henrys und über die Kannibalismusfälle mit in sein Grab.
posted by Wolfgang Opel am 24. Oktober 2012
Siehe auch „Franz Joseph Lang – Ein Arktisreisender von der Schwäbischen Alb“ und „Roderich Robert Schneider – Ein Arktisreisender aus Dorfschellenberg in Sachsen“