… und die Zehen von Fritz Loewe
reblogged vom Mai 2016 – aus Anlass der Lektüre von Patti Smith’s neuem Buch „Year of the Monkey“ – und weil Alfred Wegener am 1. November Geburtstag hatte!
Die Stimme und die Lieder von Patti Smith kannte ich lange, bevor ich sie zum ersten (und bisher einzigem) Mal am 8.2.2008 in der Berliner Passionskirche live erlebte. Nach meiner Erinnerung gab es dort nur wenige Sitzplätze und so stand ich seitlich, aber nahe der Bühne, um staunend und zunehmend begeistert ihren Klangwelten zu folgen. Schon ihre Lieder von Platte oder aus dem Radio lassen durch die Intensität von „Flüstern und Schreien“ nicht wieder los. Sie selbst als Performerin ihrer Songs, Gedichte und Prosa im Konzert zu erleben, ist jedoch ein unvergessliches und nachhaltiges Erlebnis.
Am folgenden Tag besuchte ich in der stillen Hoffnung, sie noch einmal aus der Nähe zu erleben, ihre Ausstellung von Fotos und Objekten in einer Galerie in Berlin-Mitte.
Patti Smith war natürlich nicht da, dafür sah ich zum ersten Mal Fotos von ihr – Zeugnisse ihres Interesses an scheinbar alltäglichen, aber zumeist bedeutsamen, wenn nicht gar geschichtsträchtigen Objekten.
In meinem Bücherregal steht ebenfalls ein seltsames Objekt von besonderer Bedeutung – für mich. Auch wenn ich mich kaum mehr daran erinnern konnte, hatte ich doch bereits vor einem halben Jahrhundert einen Artikel über Polargebiete von Dr. Fritz Loewe aus Melbourne gelesen: in Urania Universum, Band 6, 1960. Diese populärwissenschaftliche Reihe hat mich über die ganze Kindheit und Jugend begleitet, denn Berichte über Raketen, Flugboote, Transistoren, Wüsten und ferne Länder waren damals genau das richtige für mich.
Das Leben Fritz Loewes und seine wissenschaftlichen Leistungen blieben mir noch lange unbekannt. Von dem Polarforscher Alfred Wegener und seiner Theorie der Kontinentaldrift erfuhr ich erst 1980 durch die Herausgabe einer Briefmarke anlässlich seines 100. Geburtstages und seines 50. Todestages.
Patti Smith hat neben ihren Platten immer auch Bücher, zumeist Gedichte und Songs, veröffentlicht. Seit einigen Jahren gibt es Prosatexte von ihr und jüngst erschien „M Train“, übersetzt von Brigitte Jakobeit.
Dass dieses autobiografische Buch, das Realität, Fantasie und Traumwelt miteinander verwebt, auch von Alfred Wegener und Fritz Loewe, den bedeutenden deutschen Wissenschaftlern, handelt, verraten weder Klappentext noch die meisten deutschen Rezensionen. Offensichtlich sind manche Rezensenten weder in der Geschichte der Polarforschung zuhause, noch kennen sie „Urania Universum“.
Ich für meinen Teil war völlig überrascht, als ich neulich [das liegt inzwischen dreieinhalb Jahre zurück!] mit dem Buch von Patti Smith vor dem Kamin in einem Jahrhunderte alten toskanischen Haus saß und beim Lesen auf die Namen Wegener und Loewe stieß. Es war verdammt kühl, viel zu kalt für Mai, und trotz des Feuers im offenen Kamin konnte ich den überraschenden Ausflug in die Polarforschung sehr gut nachempfinden.
Wäre nicht Patti Smith die Sammlerin von Fotografien seltsamer Objekte, hätte wohl niemand von einem geheimen Verbund CDC, dem Continal Drift Club, gehört, der Alfred Wegener und seine lange verlachte Theorie von der Auseinanderdrift der Kontinente nach dem Bruch von Pangea, dem Urkontinent, würdigt. Patti Smith beschreibt, wie sie nach Alfred Wegeners Stiefeln sucht, um ein Foto von ihnen zu machen, und dabei ganz zufällig das 23. (!) Mitglied dieses Continental Drift Clubs wurde.
Alfred Wegener war 1930 während seiner Grönland-Expedition ums Leben gekommen. Wie so oft bei Wissenschaftlern wurden seine wissenschaftlichen Leistungen und ihre Bedeutung für das inzwischen bewiesene Phänomen von der Plattentektonik erst lange nach seinem Ableben gewürdigt. Heute trägt das Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven und Potsdam (AWI) seinen Namen.
Fritz Loewe überlebte die Expedition mit Überwinterung in einer Eishöhle – allerdings mit dem Verlust seiner Zehen infolge von Erfrierungen, die er sich auf einem Marsch über das Inlandeis zugezogen hatte. Nach der Expedition 1934 wurde er durch seinen Überwinterungskollegen Ernst Sorge als Jude denunziert und daraufhin in „Schutzhaft“ genommen. Dank einer Amnestie kam er frei und konnte mit Frau und Kindern gerade noch rechtzeitig Deutschland verlassen. Nach einem Aufenthalt in England hat er seine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere in Australien fortgesetzt. Dass der dritte Überwinterer in Grönland, Johannes Georgi, den Mut hatte, den Juden Loewe gegen alle Anfeindungen zu verteidigen, womit er sich selbst und seine Familie in Gefahr brachte, wurde erst nach dem Krieg bekannt.
Auch wenn Patti Smith diese Zusammenhänge in ihrem Buch nicht beschreibt, sei ihr schon allein für diesen – vielleicht virtuellen? – Ausflug in die Geschichte der deutschen Polarforschung gedankt. Darüber hinaus ist ihr Buch voll von vielen weiteren wunderbaren Details und Geschichten zwischen Traum und Wirklichkeit! Vielleicht sieht man sich ja eines Tages wieder? Eine schlanke Frau mit wehenden Haaren, Mütze, Jeans und langem Mantel auf einer Berliner Straße, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, im Pasternak an ihrem Lieblingsplatz unter dem Portrait des berühmten jüdisch-russischen Dichters oder wieder einmal in einem Konzert in der Passionskirche in Kreuzberg.