Wo die Zukunft wegfließt

Am Kamtschatka-Fluss (Teil I) – Kljutschi

reblogged vom 1. Juni 2013

Am Nachmittag ging ich zur Fähre. Der Regen nahm kein Ende. Der Himmel weinte. Und das Weinen kroch in die verfallenen Häuser, in die nicht mehr existierende Forst- und Holzwirtschaft, die leeren verfallenen Kuhställe, die zerstörte Fischfabrik und eine sich auflösende Millitäreinheit. Ein Schrei in die unendlichen Leere – Menschen ohne Arbeit, die in ein autarkes Leben wie im 19. Jahrhundert zurück fallen; Glück sieht anders aus.

Auf der Fähre, in Hintergrund der Vulkan Kljutschewskaja – Foto: © Ullrich Wannhoff
Auf der Fähre, in Hintergrund Vulkan Kljutschewskaja – Foto: © Ullrich Wannhoff

Nur das nasse helle Gefieder der Möwen bewegt sich in den grauen feuchten Lüften. Die Leere in den nassen Strassen bleibt, läuft nicht weg, während der Kamtschatka-Fluss alle Tränen und Schmerzen aufsammelt und ihre Geschichten in den Ozean trägt, wo sie in den Tiefen verschwinden, als hätte es den Ort nie gegeben.

Kljutschewskaja (4780 m) – Foto: © Ullrich Wannhoff
Die Morgensonne scheint auf den höchsten Vulkan Kamtschatkas, Kljutschewskaja (4780 m) – Foto: © Ullrich Wannhoff

Der kleine Ort war im 18. Jahrhundert Ausgangspunkt der Ersten Kamtschatka Expedition (1725-1730). Einige Kilometer weiter, östlich vom Ort Kljutschi, wurde das Schiff St. Gabriel gebaut. Lärchenwälder umsäumen die Flusslandschaft, aber nicht direkt an den Uferzonen, die von Weiden und Pappeln umrahmt werden und den Zugang vom Land an das Flussufer erschweren. Hier fand sich reichlich Baumaterial für das Schiff.

Uferwald mit Schiwelutsch – Foto: © Ullrich Wannhoff
Uferwald, im Hintergrund Schiwelutsch im Abendlicht – Foto: © Ullrich Wannhoff

Vorher wurden hunderte Itelmenen zu Transportarbeiten gezwungen. Der Transport verlief von der Westküste Kamtschatkas, Bolscheretsk, über den Fluss Bolschaya in die Bystrya. Danach ging es über die Wasserscheide, über Tundrahöhen nach Werchny Kamtschatsk in den Fluss Kamtschatka. Ab Dezember bildeten die vereisten Flüsse Strassen. Hunderte Hunde zogen die Schlitten mit den schwer beladenen Kisten.

Schematische Karte der Expedition
Schematische Karte der Expedition; die rote Linie zeigt den Transportweg. Getakel, Anker, Segelleinen, Navigationsgeräte, Nahrung usw. mussten im Winter über die zugefrorenen Flüsse transportiert werden.

Nach der Ankunft der Fähre „Fortuna“ am 3. September 1728 aus Bolscheretsk an der Flussmündung des Kamtschatka-Flusses schickte man die Zimmermannsleute in die Nähe des heutigen Kljutschi. Man schlug Holz, baute Unterkünfte für die Offiziere und Besatzung und begann mit dem Bau der St. Gabriel. Die Häuser von damals wurden bereits 1731 bei einem Aufstand der Itelmenen vernichtet. Erst später, um 1740/41, entstand weiter westlich der neue Ort Kljutschi.

Ruine einer Holzfabrik, im Hintergrund Kljutschewskaja – Foto: © Ullrich Wannhoff
Ruine einer Holzfabrik, im Hintergrund Kljutschewskaja – Foto: © Ullrich Wannhoff

Anfang Juli 1728 war Stapellauf, und am 13. Juli segelte die Crew den Kamtschatka Fluss hinab. Der Tag war neblig. Am 14. Juli 3 Uhr morgens wurden an der Mündung die Anker gelichtet und die Segel aufgezogen. Es herrschte leichter Wind und klares Wetter, und man nahm Kurs Süd bei Ost. Der ersehnte Ozean und das noch nicht fassbare Nordamerika lag vor den neugierigen Seeleuten …
Die Crew umrundete die bergige Halbinsel an der Flussmündung, bis der Wind sie hoch in den Norden der heutigen Beringstraße trieb. Gemäß den Berichten an die Marine-Akademie war die Frage, ob Asien mit Amerika zusammenhängt, nicht eindeutig geklärt worden, als sie 1731 in Petersburg ankamen.

Kljutschewskaja - Sredny Volcano -  Kameny
Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert. links Kljutschewskaja (4780 m), in der Mitte Sredny Volcano (2978 m), recht der Kameny (4578 m); am unteren Bildrand das Kamtschatka-Tal mit gleichnamigen Fluss.
Panorama der höchsten Vulkangruppe Kamtschatkas – Foto: © Ullrich Wannhoff
Ein Seitenarm des Kamtschatkaflusses mit dem Panorama der höchsten Vulkan-gruppe Kamtschatkas, vgl. Kupferstich oben – Foto: © Ullrich Wannhoff

Ich erlebte auch seltene Tage mit Sonnenschein, wenn Kljutschi in Helligkeit getaucht wurde und der Schiwelutsch, eine alte Vulkanruine am anderen nördlichen Ufer, im kalten Schnee rot leuchtete. Sein Rauchen, das er in den letzten Jahre gezeigt hatte, blieb aber aus. Nur einen neuen grauen Kegel gibt es nun, der jetzt unterm Schnee liegt.

 Schiwelutsch – Foto: © Ullrich Wannhoff
Die letzten Strahlen der Abensonne beleuchten den Schiwelutsch –
Foto: © Ullrich Wannhoff

Die Abendsonne verschwindet. Das Schwarz der Nacht breitet sich aus und alle Farben werden unsichbar. Noch leuchtet der Horizont rot und über mir zieht tiefes Blau, bis der Himmel seine leuchtenden Löcher im schwarzen Himmelszelt zeigt. Fröstelnd gehe ich zurück in die Unterkunft, wo es ebenso kalt ist wie draußen. Die muffige Zimmerfeuchtigkeit füllt die Nasenlöcher. Die Heizperiode hat noch nicht begonnen. Heißer Tee und Essen erwärmen das Innere, und gleich lege ich mich in den Schlafsack und bewahre meine Träume der Zukunft.

Stilleben in der vulkanologischen Station – Foto: © Ullrich Wannhoff
Stilleben in der Küche der vulkanologischen Station – Foto: © Ullrich Wannhoff

Zurück zur Geschichte des Ortes Kljutschi. Karl von Ditmar verzeichnete zur seiner Zeit, 1851-55, im Ort eine Kirche, 50 Häuser, 165 Männer, 179 Weiber, 162 Pferde, 140 Stück Vieh. Mit letzterem sind die Kühe gemeint, die aus der Region Jakutsk stammen und mit dem Beginn der Kolonisation eingeführt wurden. Der Agronom Kegel schrieb zehn Jahre zuvor von fruchtbaren schwarzen Böden, die große Flächen mit üppigen Wiesen im Kamtschatkatal bis Ust Kamtschatsk bedecken; und es gäbe nichts besseres, als hier Viehwirtschaft einzuführen. Er klagte über den mangelnden Fleiß der Russen, die sich zu wenig der Landwirtschaft widmen und verwahrlosen. Auch Ditmar kritisierte die äußerst geringe Anzahl der Kühe und warum nicht noch zusätzlich Hühner, Schafe und Schweine eingeführt würden.

Verfallendes Stallgebäude – Foto: © Ullrich Wannhoff
Verfallendes Stallgebäude – Foto: © Ullrich Wannhoff

Zur Zeit des Kalten Krieges war Kljutschi ein wichtiger Militärort mit Flughafen; er gehörte zu den „gesperrten“ Städten der Sowjetunion. Offensichtlich hielt man sich an die gedruckten Aussagen von Ditmar und Kegel und betrieb hier intensive Viehwirtschaft, um Soldaten, Offiziere und Zivilangestellte mit Fleisch zu versorgen. Nur wenige Kulturpflanzen gedeihen hier, darunter Kartoffeln und Kohl. In primitiv gezimmerten Gewächshäusern, deren Holzgestelle mit Plasthäuten ummantelt sind, die durch Wind und Wetter stark strapaziert werden, wachsen Tomaten und Gurken.

Ruine eines Fabrikgebäudes – Foto: © Ullrich Wannhoff
Ruine eines Fabrikgebäudes – Foto: © Ullrich Wannhoff

Das Stadtrecht wurde Kljutschi bereits vor Jahren (2004) entzogen. Der Ursprung dieses Titel geht auf die Zeiten Katharina II. zurück. Mit der Reformierung der Provinzen vergab sie das Stadtrecht an strategisch wichtige Ortschaften. Meist waren das größere Dörfer, die an wichtigen Schnittpunkten lagen. Noch 1989 hatte Kljutschi noch 11.251 Einwohner – doch 2010 waren es nur noch 5.726: Die Einwohnerzahl hat sich fast halbiert, und so auch die Zukunft, die den Leuten hier wie Sand aus den Fingern rinnt.

Fortsetzung folgt: Teil II: Ust-Kamtschatsk – Geflügeltes an der Mündung des Flusses und Teil III: Die Seele des Flusses gebiert Landschaften (Malerei)

Reblogged vom 1. Juni 2013 von Ullrich Wannhoff

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