Am Kamtschatka-Fluss, Teil II – Die Vögel …
reblogged vom 14. Juli 2013
Die Jagdsaison auf Enten und Schnepfen beginnt. Auf dem sonst wenig befahrenen Fluss bewegen sich brummend und knatternd viele kleine Aluboote – vollbeladen mit Ausrüstung, verbunden mit der Hoffnung, viele Enten zu erjagen – während der herbstliche Fluss weiter fließt. Für mich ist es Zeit, aufzubrechen: von Kljutschi nach Ust-Kamtschatsk.
In dem bequemen Bus westlichen Fabrikats sind fast alle Plätze belegt. Wir umfahren ein kleines Gebirge und erreichen später ein flaches Gebiet, das uns wieder an den Kamtschatka Fluss zurückbringt. Früher gab es Passagiertransport auf dem Fluss, aber seit der Fertigstellung der neuen Strasse liegt das Schiff, ein Tragflächenboot, verlassen und verrostet am langgezogenen Hafeneingang von Ust-Kamtschatsk. Keiner der Bewohner würdigt es eines Blickes. Die holprige Straße führt an Seen, Hochstauden und Weiden vorbei in die Ortschaft, wo die zahllose Schlaglöcher von Jahr zu Jahr zunehmen, und endet schließlich auf einer langen Landzunge, die vom Flusswasser umspült wird.
Im Dunklen angekommen, stehe ich hilflos an der Endhaltestelle. Mitte September werden die Tage bereits deutlich kürzer, und jetzt um 21 Uhr wölbt sich über mir der Sternenhimmel mit der von der Sonne angeleuchteten Mondsichel. Wo bin ich? Vor dem Kiosk stehen betrunkene Leute. Was bleibt mir anders übrig als sie anzusprechen? Mit ihren Felduniformen (ein Fleck – kein Fleck, immer abwechselnd) bewegen sie sich auf unsicheren Beinen, die Schrotflinte hängt lässig über der Schulter. Doch mir wird Hilfe zuteil. Ein junger kräftiger Mann telefoniert per Handy, er holt sein Auto aus der Garage, und wir fahren etwa 10 Kilometer zurück. Am letzten Kiosk des Dorfes kaufe ich noch paar Bierflaschen – so etwas wie ein Dankeschön für die Hilfe.
Im Dunklen finden wir unter Mühen die Pension: ein normales Reihenwohnhaus aus Holz mit einem Stockwerk. Es sind Häuserformen aus den dreißiger Jahren, aber hier sicherlich erst in den fünfziger und sechziger Jahren hingesetzt. Eine große, stämmige Frau, gut gekleidet mit Pelzbedeckung und schillernden Klunkern an den Fingern, steht in Halbdunkel majestätisch und stolz vor mir. Wir verhandeln einen völlig überteuerten Preis für das Quartier, wo die Heizung nicht funktioniert, die Kochplatte keinen Strom bekommt, weil die Drähte zerissen sind, aber wenigstens läuft warmes Wasser aus dem Hahn. Die Frau weiß um meine Not, und ich gebe ihr insgeheim zähneknirschend, aber mit freundlichem Gesicht das Geld.
Meine beiden betrunkenen Helfer werden mit der späten Zeit laut, während das Licht der Neonröhre im Takt flackert. Wir trinken das eingekaufte Bier. Sie erzählen, wie gefährlich das Leben hier sei (Braunbären), und Ausländer dürften gar nicht in diesen Ort.
Einer nimmt meine Daten aus dem Pass. Den Status „unerwünschter Fremder“ gibt es längst nicht mehr, aber die alten diktatorischen Strukturen sind hier, selbst im zivilen Bereich, noch tief in den Köpfen der Einheimischen eingebrannt. Die Administration jedoch interessiert meine Anwesendheit gar nicht, und ich kann im dem maroden Ort so fotografieren, wie ich möchte, ohne belästigt zu werden. – Nachdem mich die beiden verlassen haben, kotzt der eine vor der Haustür, bevor er schwankend, stolpernd ins Auto steigt … während ich warmes Wasser in die Badewanne einlasse.
Der Ort Ust-Kamtschatsk hat eine lange und bewegte Geschichte, aber ich beginne im 20. Jahrhundert. Mit dem verlorenen russisch-japanischen Krieg 1905 zogen japanische Kaufleute und Fischer auf die Halbinsel. Sie investierten mit viel Fleiß eine Fischereistation und es entstand ein bedeutender Fischereihafen, vielleicht sogar bedeutender als Petropavlovsk. Koreanische Saisonkräfte waren williger als die Russen, und so blieben die Asiaten mehr oder wenige unter sich. Das blieb so bis Ende der zwanziger Jahre. Danach entzogen die sich langsam etablierenden Kommunisten den Japanern die Konzession und bauten selbst einen Fischereihafen, gleich nebenan. Sie holten dafür Leute aus Wladiwostok. Meist waren es junge kommunistische Chinesinnen, die in der Fischsaison aushalfen.
Nach dem zweiten Weltkrieg und im folgenden Kalten Krieg wuchs eine bedeutende Fischereiflotte, und in dieser dünnbesiedelten, wilden Küstenlandschaft siedelten sich Tausende Menschen an, bis tief in die Flussmündung hinein. Neue, absurde Wohnbezirke entstanden, so wie neben dem Flughafen der Ort Krutoberegovo. Hier wuchs eine Plattenbausiedlung mit dem Schwerpunkt Viehzucht, die heute völlig verlassen ist. Am anderen Ufer des Ortes Ust-Kamtschatsk stehen stark farbige Plattenbauten, die mit modernen Blechen und Plast-Materialien umhüllt sind. Sie schreien geradezu vor Farbigkeit, Verkünder einer neuen Zeit. Auch hier sind die Blöcke längst von den Menschen verlassen – Fenster wie leere schwarze Augen, und eine farbige neu erbaute orthodoxe Kirche findet ihre Seelen.
Meine Streifzüge an der Flussmündung gelten dem Vogelflug. Tausende Enten ziehen vorbei, machen Rast, um in paar Wochen weiter zu ziehen, in den warmen Süden. Am zeitigen Morgen ballern die gefleckten, felduniformierten Schützen aus dem versteckten Schilfufer. Schrot fliegt in den grauen Himmel, und ungebratene Enten klatschen ins Wasser.
An den nassen regnerischen Tagen sind es nicht viele, aber doch eine Abwechslung fürs Familienessen, neben dem alltäglichen Lachs. Schnell werden die Flügel und Federn rausgerissen und liegen verstreut im niedergetretenen Schilf. Die meisten Arten sind Bergenten, Krickenten und Spießenten.
Am Ufer trippeln die Steinwälzer, der Graubürzel, Wasserläufer, junge pazifische Goldregenpfeifer, Spitzschwanzstrandläufer. Aus dem Nichts heraus taucht eine Bisamratte ans Ufer. Frisst Grashalme – putzt sich. Der deutsche Name ist etwas irreführend, denn sie gehören zur Familie der Wühlmäuse und fühlt sich hier pudelwohl.
Sieben Möwenarten beobachte ich auf den vielen sandigen Landzungen zum Ozean. Die Kamtschatkamöwe, die Silbermöwe, eine nordasiatische Unterart, die Lachmöwe, die Sturmmöwe, die Dreizehenmöwe, junge Eismöwen und die Beringmöwe. Sie entgehen der Jagd, weil die Einheimischen Enten bevorzugen.
Zum Teil I dieses Artikels: „Wo die Zukunft wegfließt„; zur Fortsetzung (Teil III) „Die Seele des Flusses gebiert Landschaften – eine Selbstbetrachtung mit Kunstwerken„. Im Folgejahr fand meine „Kreuzfahrt“ auf dem Kamtschatka-Fluss mit einem aufblasbaren Gummi-Kajak statt: „Bis zum Stillen Ozean und weiter„.
reblogged vom 14. Juli 2013 – von Ullrich Wannhoff