Die Seele des Flusses Kamtschatka trägt mich zum Stillen Ozean und weiter … meine „Kreuzfahrt“ mit einem aufblasbaren Gummi-Kajak
reblogged vom 25. Oktober 2013
Vom 6. Juli bis 3. August 2013 ging meine Tour rund vierhundert Kilometer abwärts auf dem Fluss Kamtschatka, der zwei Vulkangebirgskämme trennt: die Vulkane im Westen sind außer dem Ischinskaya Sopka erkaltet, die im Osten hingegen aktiv – mit der höchsten Zentralgruppe um den Kljutschewskoi mit 4800 m. Mir ging es dabei nicht um den sportlichen Wert, viele Kilometer am Tage zu schaffen, sondern darum, die Vielfalt der Landschaft mit seiner Vogelwelt zu beobachten. An manchen Plätzen blieb ich zwei Tage und kreuzte den Fluss mehrmals, weil das andere Ufer jeweils spannender und lebhafter aussah.
Zunächst fuhr ich mit dem Linienbus von der Gebietshauptstadt Petropavlovsk in Richtung Kosyrevsk, eine alte russische Siedlung aus dem 18. Jahrhundert. Der Busfahrer war so nett und ließ mich etwa 30 Kilometer vor dem Ort an der neu erbauten Brücke (fertiggestellt 2012) aussteigen. Dies war der Beginn einer Kreuzfahrt durch die ungezähmte Wildnis, wie ich sie hier schon seit zwei Jahrzehnten kenne. Das Wetter war warm und die dünne Wolkendecke sonnig durchtränkt, so dass mich am Ufer Wolken von Mücken und Bremsen begrüßten.
Nach zwei Stunden war alles so weit zurecht, dass ich starten konnte, um auf der Mitte des Flusses endlich die lästigen Insekten abzuschütteln – nicht alle, aber die meisten.
Das Hochwasser hat die Ufer stark strapaziert, ähnlich wie in Deutschland. Wegen der dünnen Besiedlung war das Leid der Menschen hier nicht so groß wie bei uns. Dazu kommt, das Russen anders mit Katastrophen umgehen als wir. Die Brücke wurde erst vorige Woche wieder für den Verkehr frei gegeben. Bis kurz hinter der Ortschaft Kljutschi ziehen sich Steinbirkenwälder hin. Mit mir zusammen schwammen entwurzelte Weiden, Erlen, Lärchen und Steinbirken den Fluss hinunter. Die meisten endeten im Kehrwasser und auf Inseln; die wenigsten schafften es in den großen Ozean.
Der deutsche Naturforscher Georg Wilhelm Steller berichtet 1741 vom gestrandeten Treibgut aus Kamtschatka, als er und die von Skorbut gebeutelten Seeleute unfreiwillig auf der damals unbewohnten Beringinsel landeten. Große Pappeln und stark vom Wetter zerfledderte Lärchen schauen aus dem Blätterkronendach der Steinbirkenwälder heraus und stehen wie Denkmäler in der Landschaft. In dieser Zeit einen trockenen Zeltplatz am Ufer zu finden gestaltete sich schwierig. Die Uferzonen sahen aus wie die Mangrovenwälder in den Tropen. Es war noch hell am Tage, und so nutzte ich die Zeit, um weiter zu paddeln, mit der Hoffnung verbunden, doch noch ein trockenes Plätzchen zu finden. Glück des Tüchtigen. Eine Sandbank war spärlich mit jungen Weiden besetzt. Huurraaah! Das Wort verschluckte sich, weil die Mücken die ganze Luft einnahmen. Da half auch kein russisches Antimückenspray mehr.
Hier zeltete ich zwei Tage lang. Der Platz gefiel mir, und es waren viele Singvögelstimmen zu hören, die mein Interesse weckten. Aber auch frische Bärenspuren sah ich jede Menge, was mich wenig berührte, weil die Teddys einen in Ruhe lassen, solange man sich ihnen nicht in den Weg stellt. Ich ließ die Luft aus dem roten „Lachsboot“, faltete es zusammen und legte eine Plane darüber. Und das geschah jeden Tag. Morgens wieder aufblasen, was nur fünfzehn Minuten dauerte.
In der Weite und Melancholie des Flusses trieb ich an drei Dörfern vorbei, wo ich meine Fotobatterie aufladen konnte und ein paar Lebensmittel bzw. frisches Wasser tankte. Der Kamtschatka-Fluss trägt viele weiche Sedimente (Asche) mit sich, die von den Vulkanen und seinen Nebenflüssen hineingetragen werden. Es empfiehlt sich nicht, dieses braune Wasser ohne Filter zu trinken (Durchfall usw.) Hinter dem Ort Kljutschi endet der Steinbirkenwald.
Hier in der Nähe wurde 1728/29 das Schiff “St. Gabriel“ gebaut, unter der Leitung des Kapitäns Vitus Bering. Nur er allein – neben dem verstorbenen Zar Peter I. – kannte die geheimen Abmachungen bezüglich der Expedition. Hier gab es die letzten Lärchen, die man für den Bootsbau zur Ersten Kamtschatka-Expedition brauchte. 1731 wurde diese kleine Siedlung von den Itelmenen zerstört, woraufhin ein paar Kilometer flussaufwärts der Ort Kljutschi entstand. Das war in der Zeit, als Bering zur Zweiten Kamtschatka Expedition, auch Große Nordische Expedition genannt, startete.
Zwischen Kljutschi und dem sich anschließenden Mittelgebirge (etwa 500-1200 m hoch) liegt ein breites Tal. Der Fluss formt sich vieladrig, und einige Nebenarme enden im See. Daraus ergaben sich im Vorfeld meine größten Befürchtungen – der Gedanke, unfreiwillig in einen der Seen zu landen, hämmerte in meinem Kopf. Bei der starken Strömung ist es fast unmöglich, wieder zurück zu paddeln. Diese große Sorge trieb mich dazu, diesen Abschnitt an einem Tag zu machen. Da ich kein GPS oder Kompass dabei hatte, war mir wichtig, den Vulkan Kljutschewskoi und die Sonne im Rücken zu haben, den Schivelutsch – eine uralte Vulkanruine auf der linken Seite – im Norden, und die Bootsspitze genau auf das Mittelgebirge im Osten gerichtet. Das war alles gut einsehbar, aber wegen der vielen Nebenarme – es gibt keinen erkennbaren Hauptarm – wusste ich trotzdem immer noch nicht, ob ich auf dem richtigen Weg war.
Manchmal war der Fluss so breit wie ein See, und ich hatte das Gefühl, er fließt gar nicht mehr. Dann sah ich aber die Lachmöwen und Flussseeschwalben auf Treibholz sitzen, das Richtung Osten trieb. – Also nichts wie hinterher! Hier gab es weder andere Boote noch irgendwelche Seezeichen. Vor mir sah ich das dunkelgrüne Mittelgebirge mit den Schneefeldern in den Senken, die waren nicht weit weg. Als sich der Hauptstrom verschmälert, etwa auf die Breite der Elbe, und andere Flüsse zuflossen, atmete ich auf – geschafft! Es fiel mir ein Stein von Herzen, ich war genau richtig!
Nun konnte ich am Abend in Ruhe mein Zelt aufschlagen und Tee trinken. Zu gerne wäre ich in dem breiten Tal geblieben, aber dort einen trockenen Zeltplatz zu finden, war unmöglich. Große Areale von Feuchtwiesen und Weiden über Weiden bestimmen die flache Landschaft. Ab und zu sitzen Riesenseeadler auf abgestorbenen, starken Ästen, und die weißen Wolken am blauen Himmel ziehen surreale Gebilde hinter sich.
Die nächsten Tage ging es durch das saftig grüne Gebirge, das mit Steinbirken bewachsen ist. Einfach großartig. Hinter mir sah ich die höchste Vulkangruppe Kamtschatkas. Beeindruckend wie die Berge am wolkenleeren Himmel stehen, wie ein Scherenschnitt, mit dem rauchenden Besemjany, einer der kleinen, aber aktivsten Vulkane. Nach dem Verlassen des Gebirges öffnet sich die Landschaft, wird flach und trägt typische Merkmale der Tundra, hat subalpinen Charakter. Viele niedrig wachsende Pflanzen, wie Krähenbeeren, Schwedischer Hartriegel, Weiden in Strauchform, Lilien – und die Seeluft. Die ersten Seehunde kommen mir entgegen. Lachse springen aus dem Wasser. Raubmöwen jagen anderen Möwen die Nahrung ab. Große Kamtschatkamöwen fliegen über mir. In der Ferne sehe ich den Fischereihafen, dessen Kräne aus Eberswalde bei Berlin sich schon lange nicht mehr drehen.
Der nächste Abschnitt steht bevor: der Nerpitschnoe Ozero – zu deutsch „Seehundsee“. Meerwasser vermischt sich mit süßem in dem großen See, der mich nun für eine Woche im Bann hält. Danach geht es ins offene Meer. Noch nie bin ich so schnell gepaddelt wie bei Ebbe aus diesem Fluss. Ich hatte mir zuvor im Hafen bei einem Kapitän die Tidenzeiten aufgeschrieben. Die Leute waren sehr hilfsbereit, mit Ausnahme von Verkäuferinnen, die sich in den Privatgesprächen gestört fühlten, als ich etwas kaufen wollte.
Der Seenebel hat sich so tief gesenkt, dass ich nur nach Gehör paddle, das Wellenrauschen am Strand gibt mir die Orientierung. Dann ist auf einmal das Rauschen weg. Nanu? Keine Panik. Die Sonne muss im Rücken sein bzw. auf der rechten Seite, alles andere wären die unendlichen Weiten des Ozeans. Nach einer halben Stunde Paddeln ist immer noch kein dunkler Uferstreifen in Sicht. Urplötzlich zieht der Nebelvorhang auf. Ich sehe die glänzenden Tanks an der langen Landzunge und atme tief durch. Auf dem Schock hin schnell ans Ufer und das Zelt aufschlagen, auch wenn es erst Mittag ist. Danach bin ich noch zwei Tage an der Steilküste unterwegs, diesmal bei sehr guter Sicht.
Am vorletzten Tag mach ich mich auf den Weg zurück. Das Meer atmet heute etwas tiefer, und die Wellen heben und senken sich wie noch nie in den Tagen zuvor. Soll ich die langweilige flache Bucht abkürzen Richtung Flussmündung? Der Versuch ist es wert, und ich gewinne einige Stunden und kann meine Sachen trocknen, bevor die Flut in den Fluss eintritt.
In der Mitte der Bucht sind die Wellen allerdings drei bis vier Meter hoch, aber ohne Schaumkronen. Mein Boot ist aber nur für einen Meter Wellenhöhe geeignet. So treibe und paddele ich wie in einer Nussschale in Richtung Flussmündung. Es kostet viel Kraft. Endlich schneiden sich die Wellen des Meeres mit dem Fluss. Klitschnass steige ich zwischen beiden Wellenbewegungen auf einer Sandbank aus und schiebe den „roten Lachs“ Richtung Flussufer.
Freudig trockne ich meine Sachen. Guter Wind, schnelles Feuer. Es dauert nicht lange, da kommen freundliche Uniformierte auf mich zu. Kontrollieren meine Papiere. Ich frage: „Stimmt was nicht?“ „Ja, Sie brauchen eine Genehmigung für das Meer“. Im erschrockenen Ton erwidere ich „was? – habe ich nicht, weiß ich nicht“. Zwei Stunden vergehen, und viele neugierige Fragen prasseln auf mich ein, bis die Beamten den seltenen Vogel wieder frei lassen und ich bei Flut weiter in den Fluss paddeln darf …
reblogged vom 25. Oktober 2013 von Ullrich Wannhoff
In seinem Buch „Der stille Fluss Kamtschatka“ kann man erfahren, was Ullrich Wannhoff auf einer 400 km langen Paddeltour auf dem Kamtschatka-Fluss noch alles erlebte – und was ihn dort bewegte.
Auch seine „landseitigen“ Erfahrungen am Kamtschatka-Fluss im Jahr zuvor hat er verbloggt: „Wo die Zukunft wegfließt„, „Ust-Kamtschatsk – Geflügeltes an der Mündung des Flusses“ und „Die Seele des Flusses gebiert Landschaften“ (Malerei).