In diesem Jahr feiert Kanada den 150. Jahrestag der Konföderation, des Staatsgebildes Kanada. Nicht alle Kanadier sehen den Festlichkeiten mit ungetrübter Freude entgegen – denn für die indigenen Völker Kanadas, die First Nations, Inuit, und die Métis, steht der Jahrestag der Staatsgründung auch für die vor etwa 150 Jahren nochmals verstärkt einsetzende Kolonisation.
Die Geschichte der Ureinwohner im heutigen Kanada begann vor mindestens 12.000 Jahren – oder waren es gar 24.000? – als Völker aus Asien den amerikanischen Kontinent erreichten.
Hier lebten, bevor seit dem 17. Jahrhundert Franzosen und Briten das heute kanadische Territorium besiedelten, wahrscheinlich ca. 350.000 Menschen, die 50 verschiedene Sprachen verwendeten.
Die Erschließung des Landes durch die europäischen Siedler hatte gravierende Folgen für die Ureinwohner. Wegen Überjagung nahmen die Wildbestände ab, die Ureinwohner wurden abhängig von Handelsgütern – außer Lebensmitteln, Werkzeug, Waffen und Munition leider auch Alkohol, mit verheerenden Folgen. Sie lernten Schulden, Hunger und Elend kennen. Epidemien wie Tuberkulose, Masern und Pocken rafften einen großen Teil der indigenen Bevölkerung dahin; ganze Dörfer mussten aufgegeben werden.
Christliche Missionierung verstärkte den kulturellen Wandel, der durch die veränderte Lebensweise eingesetzt hatte.
Um die Ressourcen des Landes für Ackerbau, Viehzucht und Industrie zu übernehmen und mittels Eisenbahnen zu erschließen, handelte die föderale Regierung Kanadas im 19. Jahrhundert Verträge mit den First Nations zu Landabtretung – oder wasr es Landraub? – und zu ihrer Ansiedlung in Reservaten aus, wo sie „zivilisiert“ und assimiliert werden sollten. Als Gegenleistung wurden jährliche Geldzahlungen und die Sorge für Schulen, Ausbildung und wirtschaftliche Entwicklung zugesagt – ein nur unzureichend erfülltes Versprechen, was bis heute große Probleme nach sich zieht. In manchen Reservaten erinnern die Lebensbedingungen – von der Trinkwasserversorgung über die Wohnungssituation bis hin zum Zustand der Schulen – an die dritte Welt und entsprechen keineswegs den Standards im übrigen Kanada.
Seit dem Indian Act von 1876 betrieb man über 100 Jahre lang eine Politik der kulturellen Assimilierung, die auf das Verschwinden der indigenen Sprachen, Lebensweise, religiösen Auffassungen und damit der gesamten Kultur zielte. Ebenso lange wurden Kinder der Ureinwohner zwangsweise von ihren Familien entfernt und in zumeist kirchlich geleitete residential schools (Internatsschulen) verbracht, wo sie häufig auch psychischen, physischen Misshandlungen und manchmal sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. Das führte zu Entwurzelung, Traumatisierung und gebrochenen Lebensläufen mehrerer Generationen. Die Nachwirkungen – Armut, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Gewalt – belasten die Entwicklungsmöglichkeiten, vor allem die der Kinder, bis heute.
Seit den 1980er Jahren entstanden bei den First Nations und den Inuit organsierte politische Bewegungen zur Rückbesinnung auf kulturelle Werte, zum Retten und Wiedererlernen der eigenen Sprache und Traditionen und zur Selbstbestimmung. In jüngster Zeit benutzen vor allem junge, gut ausgebildete Angehörige der First Nations und Inuit das Schlagwort „Dekolonisation“, um grundlegende Rechte und Chancen für ihre Völker einzufordern.
Als Tourist hat man in allen Provinzen und Territorien Gelegenheit, sich auch über das „Kanada 150 plus“ zu informieren – das Kanada der First Nations, Inuit und Métis.
Mehr zum Thema in meinen Artikeln „150 oder 12.000 Jahre? Aus der Geschichte Kanadas“ sowie „Ahornblatt und Medicare. Bemerkungen zu Politik und Gesellschaft“, die im Heft 2/2017 des Magazins 360° Kanada erschienen sind, sowie in unserem Kanada-Länderporträt (MANA-Verlag).