Gestern wurde bekanntgegeben, dass Teile der kleinen Insel Kolgujew in der südöstlichen Barents-See, ein wichtiges Gebiet für Zugvögel, Standort einiger bedrohter Arten und Heimat für etwa 400 Nenzen (ein indigenes Volk), zum Naturreservat erklärt wurden. Für uns Anlass, eine Buchbesprechung von 2012 zu „rebloggen“.
Buchrezension: Wassilis Golowanows Roman
Golowanow führt uns in eine „jungfräuliche“ Welt der Natur ein, die zunächst fremd und unberührt zu sein scheint. Doch nach dem Lesen liegt darüber eine zarte Decke, von uns Menschen selbst gestrickt, entstanden im Lauf der Entdeckungsgeschichte, bestehend auch aus Schmerz. Die Flucht aus den Beziehungen und dem Alltagsgetriebe in Moskau auf die Insel Kolgujew bringt Golowanow zu einem Dialog mit sich selbst, zusammengeflochten in einem Gedankennetz, das sich bis nach Paris ausspannt.
Es waren Westeuropäer, die die Insel schon im 16. und 17. Jahrhundert auf Landkarten verzeichneten, auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien und China. Unter ihnen befand sich der holländische Seefahrer Willem Barents, der seinen Entdeckerdrang 1597 mit seinem Leben bezahlte.
Nicht nur europäische Forscher, auch Walfänger, Kaufleute, Pelztierjäger und Altgläubige drangen in die unwirtlichen Küstengebiete der Barentssee ein. Die Nenzen, nomadisierende Rentierhirten, wurden mit völlig anderen Kulturen und Lebensformen konfrontiert, die in ihre Lebensweise eingriffen. Ein Prozess von Veränderungen, die bis heute nicht abgeschlossen sind und noch fließen, nur wohin?
Heute verschärft die Suche nach Erdgas und Erdöl die Probleme. Lethargie und Alkohol reichen sich die Hand. Wo die ursprüngliche Kultur verloren ging, die heidnischen Götter die Menschen schon längst verlassen haben und die „intellektuelle Decke“ sehr dünn ist, breiten sich Gewalt und Missgunst aus, Wunden, die kaum zu schließen sind und Narben hinterlassen. Nur wenige starke Persönlichkeiten auf der Insel Kolgujew stellen sich den Problemen, von Wassili Golowanow liebevoll beschrieben; die Dialoge zwischen Nenzen und Russen, in einem komplizierten Gefüge aus Abwägung und gegenseitigen Abhängigkeiten, erhalten Tiefe in poetischer Bildsprache.
Nach mehrmaligen Reisen des Autors auf die Insel hat sich das Leben Golowanows verändert – und vielleicht auch die Sicht der Leser, die hier ein ganz anderes Bild von den „Rändern Russlands“ erhalten können.
Wassilis Golowanow: „Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens“,
528 S., gebundene Ausgabe, Matthes &Seitz, Berlin 2012, ISBN 978-3-88221-994-4
reblogged vom 19.11.2012 von Ullrich Wannhoff