Tanya Tagaq: Faszinierende Klang-Landschaft für einen Stummfilm

Für ihren Debütroman „Split Tooth“ erhielt die vielseitige Inuit-Künstlerin Tanya Tagaq am letzten Dienstag den Indigenous Voices Award. Anlass für uns, diesen Beitrag vom März 2014 zu „re-bloggen“:

Die Inuit-Künstlerin Tanya Tagaq holt „Nanuk der Eskimo“ (Nanook of the North) zurück in die Inuit-Kultur – am 6. April 2014 im Badehaus Szimpla Berlin. Der Stummfilm „Nanook of the North“ (1922) von Robert J. Flaherty, der in den 1920er Jahren in den USA wie international große Erfolge beim Publikum erlebte, gilt als erster Dokumentarfilm in Spielfilmlänge. Obwohl er authentische Elemente aus dem traditionellen Leben der Inuit enthält, handelt es sich aber keineswegs um eine Dokumentation; im Gegenteil: fast alles war inszeniert, und man kann es bestenfalls „Dokudrama“ nennen.

Filmplakat
Filmplakat aus den 1920er Jahren

Nicht nur, dass die porträtierten Inuit aus dem Norden der Provinz Quebec andere Namen und Familienbeziehungen hatten als im Film; sie lebten zur Zeit der Dreharbeiten bereits in völlig anderen Umständen, als es der Film darstellt. Sie trugen nicht nur andere Kleidung, verwendeten andere Jagdtechniken etc.; sie hatten längst auch eine ganz andere Vorstellung von der Welt als in Flahertys Film dargestellt wird.

Nyla
Nanooks Frau Nyla – in Wirklichkeit die Geliebte Flaherty

Der Film versucht, das Leben der Inuit vor ihren dauerhaften Kontakten zu den Europäern darzustellen, und tatsächlich gelingt es ihm auch, die bewundernswerten Fähigkeiten der Inuit in einer für uns unwirtlichen, extrem harschen Lebensumgebung zu zeigen und heroische Momente ihres Alltags zu erfassen – ob beim Bau eines Iglus, im Kajak im eisigen arktischen Meer, oder bei der gefährlichen Jagd …

Nanook - Foto: Robert J. Flaherty
Nanook in einer Jagdszene – Foto: Robert J. Flaherty

Nanook und seine Familie werden als exotische Menschen vorgestellt – sie wirken urig, rührend nett, fast immer fröhlich, sehr tüchtig, aber simpel und naiv – eben aus der Perspektive eines weißen Reisenden von 1922, die wir heute bestenfalls als „kolonial“ oder paternalistisch bezeichnen können, und die den damals verbreiteten Klischeevorstellungen vom „edlen Wilden“ entgegenkam.

Nanook - Allakariallak - Foto: S.H. Coward
Nanook hieß eigentlich Allakariallak – Foto: S.H. Coward

In Kürze [gemeint war April 2014] werden wir in Berlin erleben können, wie die Inuit-Künstlerin Tanya Tagaq aus Iqaluktutiak (Cambridge Bay) sich „live“ mit dieser Sichtweise auseinandersetzt und den Stummfilm mit einzigartigen Klängen kontrastiert.

Iqaluktutiak (Cambridge Bay) - Foto: Wolfgang Opel
Iqaluktutiak (Cambridge Bay) – Foto: Wolfgang Opel

Tanya Tagaq wurde bekannt für ihren erfinderischen Umgang mit dem traditionellen Inuit-Kehlkopfgesang (katajjaq, „throat singing“ → Kanada-Länderporträt) den sie in freier Improvisation und mit leidenschaftlicher Sinnlichkeit über die Traditionen hinaus erweitert.

Throat-singing, links: Lois Suluk-Locke
Traditionelles Throat-singing, links: Lois Ujaupiq Suluk

Als die Sängerin Björk Tanya Tagaq singen hörte, lud sie sie zur Zusammenarbeit ein, und sie tourten im Jahr 2000 gemeinsam . Tanya ist auf Björks Album Medúlla zu hören und Björk auf Tanyas Debut-Album Sinaa. Später arbeitete Tanya auch mit dem berühmten Kronos-Quartet, dem wahrscheinlich bedeutendsten Quartett für zeitgenössische Klassik, zusammen. [Nachtrag 2019: Viel gelobt wurd ihre Zusammenarbeit mit der angesagten Elektropunkband A Tribe Called Red“ 2016 bei Sila (Album We Are The Halluci Nation) sowie mit Buffy Sainte-Marie bei You Got to Run (Spirit of the Wind) auf ihrem jüngsten Album Medicine Songs von 2017.

Björk - Foto: deep_schismic
Björk 2008 in Melbourne – Foto: deep_schismic

Bereits vor Jahren, als Tanya Tagaq in der Schule den Film „Nanook of the North“ sah, war sie wegen der dargestellten Stereotypen ziemlich peinlich berührt, auch wenn sie gleichzeitig Stolz auf die hier gezeigte Adaptions- und Widerstandsfähigkeit ihrer Vorfahren empfand.

Tanya Tagaq - Foto: Michael Höfner
Tanya Tagaq – Foto: Michael Höfner

Aus Anlass der Filmretrospektive „First Peoples Cinema“ auf dem Toronto International Film Festival 2012, bei der auch der alte Stummfilm „Nanook of the North“ gezeigt wurde, schuf sie zusammen mit dem Komponisten Derek Charke, dem Perkussionisten Jean Martin und dem Violinisten Jesse Zubot ein neuartiges Klanggemälde, das – wir können ziemlich sicher sein – den Film wohl nicht einfach akustisch untermalt, sondern kontrastiert; sie selbst äußerte dazu: „Ich fordere den Film zurück. Obgleich ich keinen Zweifel habe, dass Robert Flaherty die Inuit und das Land sehr mochte, sieht er sie durch die Brille von 1922. Es ist toll, dass ich als moderne Frau, ja moderne Inuit-Frau, den Film zurückhole.“

Tanya Tagaq mit Jesse Zubot und Jean Martin - Foto: G;garitan
Tanya Tagaq mit Jesse Zubot und Jean Martin – Foto: G;garitan

Nun [edit: das war 2014!] ist Tanya Tagaq Anfang April mit „Nanook of the North“ zusammen mit zwei Begleitmusikern auf Tour. Wer schon einmal Musik von ihr gehört oder ihre Performances auf YouTube gesehen hat, weiß, dass uns eine spannende Veranstaltung* erwartet!

… „[Tagaq makes Inuit throat singing] sound fiercely contemporary, futuristic even. Recalling animal noises and various other nature sounds, she is a dynamo, delivering a sort of gothic sound art while stalking the stage with feral energy.” – The New York Times

*Demnächst folgt unser Blog über Tanya Tagaqs Konzert auf dem CTM-Festival im Januar 2017.

reblogged vom 23. März 2014 von Mechtild Opel.

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