Dass in Kamtschatka gerade wieder ein Vulkan – diesmal der Schievelutsch – sehr aktiv ist, nehmen wir zum Anlass, um diesen Beitrag zu Erlebnissen auf Kamtschatka 2013 zu rebloggen – da geht es um den Tobaltschik:
Wie Gedärme quillt die rote Lava aus der dunklen Erde – Erlebnisse auf Kamtschatka, Juni bis August 2013
Am Tage bedeckt Schneegeriesel die frisch erkaltete schwarze Lava, während einige Meter darunter die glühende Lava fließt.
Die Oberfläche, die von der heißen Lava aufgerissen wird, erinnert an einen Schwarzweißfilm. Wasserdämpfe steigen nach oben und verflüchtigen sich in den dunklen blaugrauen Wolken die darüber ziehen und am Horizont mit Helligkeit durch die Sonne aufgesogen werden.
Eine spannungsvolle Lichtdramaturgie von grauen Schattierungen, die ein malerisches Bild ergeben und uns an Gerhards Richters künstlerische Werke erinnern, mit den gemalten Effekt der verschwommenen diffusen Ansichten einer Fotografie. Das lässt uns erahnen, welche Naturgewalten sich unter unseren Füßen bewegen.
Die gerissene schwarzgraue Oberfläche blutet, und zähflüssige Lava leuchtet hindurch. Wie aufgerissene verletzte Körper, deren stillendes Blut Schorf bildet. Formen von schwarzen Gedärmen quellen nach außen und erinnern uns an Tierleiber in den gekachelten Schlachthöfen, wo die Bäuche der Tiere in der Länge aufgeschlitzt werden. In der vulkanologischen Fachsprache spricht man von Stricklava. Sie fließt um ihre eigene Achse und bildet strickähnliche Muster, je nach Fließgeschwindigkeit.
Immer wieder bricht die verletzte, fast erkaltete Lava-Oberfläche auf, und Rotes stößt nach und wird mit nachfolgender Hitze von 1100°C gefüttert. Spannungen, die zerreißen, platzen – und das Ganze in Zeitlupentempo, ohne Eile. Geschwindigkeit ist fehl am Platze. Stetig und beharrlich drückt sich Rotes durch alle Ritzen, als gäbe es die informelle Kunst schon seit Millionen Jahren, bevor Jackson Pollock sie in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in seiner Garage auf Long Island entwickelte. Unserem Denken haften immer wieder metaphysische Metaphern an, deren Vergleiche uns in Gefühle ausbrechen lassen, die kaum regulierbar sind – oder?
Sich treppenartig übereinander stapelnd walzt die Lava ins Tal hinab. Baut sich auf bis 15 Meter hoch und wird begrenzt durch das Abkühlen an den Rändern. Schicht für Schicht quillt darüber, ohne wirklich sichtbar vorwärts zu kommen. Die Hitze unter den Fußsohlen zeigt uns die Gefahren auf. Jeder Schritt nach vorne kann das Ende unseres Lebens sein. Ein Leben, das wir in der Erdgeschichte wie eine Stecknadel im Heuhaufen suchen müssten und wahrscheinlich nicht finden. Ein aussichtsloses Unterfangen. Noch haben wir kein weiteres Leben im Kosmos gefunden…
Die Nacht bricht an und noch dunkler als die Wolken zieht sich der Himmel zu. Schon längst scheint die Sonne auf der anderen Seite der Erde. Ihr glühender Ball sichert uns das Leben auf der Erde und macht die Nacht zum Tag. Rhythmen des Schlafens und Wachens lösen sich ab.
Der Vulkan spuckt und spuckt das Blut der Erde in den Himmel. Staunend stehen wir davor. Brachiale Gewalt öffnet sich nach oben. Glühende und geschmolzene rote Steine erkalten in der Luft, fallen fast geräuschlos auf die schrägen Hänge des Vulkans, der aus schwarzen Schlacke- und Aschefeldern besteht. Wärme, die nicht lange anhält, und das lockere „Gestein“ und Geröll erschwert das Laufen des Neugierigen, der unbedingt den Kraterrand erreichen möchte.
Die rote Hitze wird in den Wolken reflektiert. In der Stadt spricht man von Lichtsmog. Rote glühende Lava funkelt punktuell auf der dunklen Aschenoberfläche, als würde eine Stadt im rot leuchtenden Lichtermeer untergehen.
Je dunkler es wird, um so mehr leuchtende Punkte schälen sich in der Ferne als bewegte rote Walze stufenartig in das Tal, in südliche Richtung, in Richtung des toten Waldes, wo beim Seitenausbruch des Tolbatschik 1975/76 seine Asche den Bäumen die Luft wegnahm und sie vertrocknen ließ. Jedes zarte Ästlein zweigt sich sperrig und leblos vom Stamm. Mit den Jahren verbreiten sich junge Pionierpflanzen, die die schwarzen Aschefelder beleben. Wind und orkanartige Stürme verteilen den Samen, und die Insekten bestäuben unfreiwillig die kleinen Pflanzenpolster.
Zurück zu den Lavafeldern, deren Dampf nicht nur Wasser, sondern unter anderem Fluor und Chlor enthält. Daraus bildet sich eine gelbe Kruste die von der Lava nach unten abtropft, ähnlich wie Stalaktiten. Bizarre Formen, die uns zum Staunen bringen, einfach großartig.
Hier ist die Erdoberfläche jünger als wir. Sie wurde in einem Spaltenausbruch in zweitausend Meter Höhe geboren. Später bildete sich in tieferer Region ein neuer Aschekegel heraus, in dessen Schlund mehrere rote Löcher kochen. Nur eine Lebensmüder könnte davon angesogen werden – Himmel und Hölle wird seine Seele aufnehmen.
Seit 30. November 2012 bis Ende August 2013 kam es zu einem Spaltenausbruch des Vulkans Tolbatschik. Der Tolbatschik besteht aus dem 3.400 m hohen Ostryi (= spitzen) Vulkan und den Ploskii (= flachen) Vulkan von 3.000 m Höhe. Beide gehören zu der hohen Vulkangruppe im zentralen Teil Kamtschatka, die sich südlich um den höchsten Vulkan Klutschevskoi gruppieren.
Ein zwanzig Kilometer langer Lavastrom floss seither den Aschekegel hinunter und bildete drei Hauptströme. Anfang September 2013 wurde die Lavaproduktion eingestellt.
Viktor Okrugin, Vulkanologe und mein bester russischer Freund auf Kamtschatka, sagte: „Ulli – jetzt müssen wir wieder etwa vierzig Jahre warten bis zum nächste Ausbruch.“ So war der Rhythmus der letzten Jahrzehnte. Die itelmenischen* Götter werden die Berichte in den Himmel schreien…
(* Itelmenen = Ureinwohner Kamtschatkas)