reblogged vom 26. Juni 2012 – English version here.
Einen nicht alltäglichen Besuch hatte vor einigen Wochen der Alte Friedhof in Darmstadt – für eine Inuk aus dem fernen Labrador (Kanada) gab es einen ganz besonderen Anlass, hier eine Blume niederzulegen.
Nur wenigen Bewohnern der Stadt dürfte bekannt sein, dass in Darmstadt im Dezember 1880 eine Gruppe von Inuit (damals Eskimo genannt) in einer „Völkerschau“ auftrat. Der Tierparkunternehmer Carl Hagenbeck war damals der Initiator solcher Veranstaltungen, bei denen exotische Menschen aus fernen Ländern sich in ihrer traditionellen Kleidung und Lebensweise präsentierten und so Impressionen aus der weiten Welt in deutsche Groß- und Provinzstädte brachten. Die Völkerschauen erfreuten sich damals großer Beliebtheit bei den Menschen aller Schichten, bei Groß und Klein, und somit füllten sich auch die Kassen der Veranstalter, die meist mit beträchtlichen Gewinnen abschließen konnten – wenngleich der Aufwand, Menschen aus Afrika, Amerika, Ozeanien, Indien oder Grönland, samt deren traditionellen Ausrüstungsgegenständen, nach Europa zu bringen, doch recht groß war.
Die Inuit, die damals nach Darmstadt kamen, waren von dem Bootsbesitzer Adrian Jacobsen im Auftrag Hagenbecks angeworben worden, gegen Bezahlung ihre Heimat an der Nordostküste des heutigen Kanadas zu verlassen und mit ihm nach Hamburg zu segeln, um dort eine einjährige Europatour anzutreten: Abraham und seine Frau Ulrike mit zwei kleinen Kinder, und der junge Mann Tobias, getaufte Christen aus Hebron, der Missionsiedlung der Herrnhuter Brüdergemeine, sowie die „heidnischen“ Nomaden vom Nachvakfjord, Terrianiak, seine Frau Paingo und die 15jährige Tochter Noggasak.
Der dreitägige Auftritt der Inuit in Darmstadt fand im Skating Rink statt, nahe der Stelle, wo wenig später das Varieté-Theater Orpheum erbaut wurde. Am 15.12. 1880 schrieb das Darmstädter Tageblatt:
„Die Vorführung der zwei Eskimo-Familien im Skating Rink erregt wegen des gebotenen höchst eigenthümlichen nordischen Bildes das höchste Interesse der Besucher und es ist recht zu bedauern, daß die so ungünstige Witterung Viele abhalten wird, sich diesen ungewöhnlichen Eindruck zu verschaffen. Die Leute, obwohl sehr klein, sehen gesund, vergnügt und reinlich aus und bemühen sich in Schlittenfahrten (wobei sechs kräftige Zughunde energisch mitwirken), Beschleichen des Seehundes und Anderem, dem Zuschauer einen kleinen Begriff ihres arctischen Lebens beizubringen.“
Doch schon einen Tag später berichteten die Zeitungen vom plötzlichen Tod des Mädchens Noggasak und ihrer Bestattung. Sie war nur die erste; wenige Tage später verstarben zwei weitere Inuit in Krefeld; sie waren an Pocken erkrankt. Keiner der acht Inuit sollte die ferne Heimat je wieder erreichen: die anderen fünf kamen noch bis Paris, wo auch sie – nach einigen Tagen Auftritt im Jardin d‘Acclimatation – im Januar 1881 der Tod ereilte.
Über das tragische Schicksal dieser Inuit-Gruppe berichteten damals lokale Tageszeitungen, später noch das „Missionsblatt“ der Herrnhuter Brüdergemeine, doch gerieten die Ereignisse bald in Vergessenheit. Erst hundert Jahre später stieß der kanadische Wissenschaftler J.Garth Taylor in einem Archiv zufällig auf die Abschrift der deutschen Übersetzung eines Tagebuches, in dem Abraham damals Eindrücke von der Reise der Inuit in seiner Muttersprache Inuktitut niedergeschrieben hatte. Ein daraufhin 2005 in Kanada veröffentlichtes Buch, das eine Übersetzung von Abrahams Text wie auch Fotos und Zeitdokumente in Englisch enthielt (2007 erschien eine erweiterte deutsche Version, „Abraham Ulrikab im Zoo“), geriet vor zwei Jahren in die Hände von Zippora Nochasak. Als sie von dem Schicksal ihrer Landsleute erfuhr und das Foto ihrer Namensvetterin Noggasak (eine nicht mehr gebräuchliche Schreibweise ihres eigenen Familiennamens) erblickte, war sie tief bewegt. Die Geschichte ließ sie nicht mehr los und brachte sie zur Zusammenarbeit mit uns, einer Gruppe von Autoren, die wir tiefergehende Recherchen zu diesem Thema unternommen haben und derzeit ein Buch und einen Dokumentarfilm über unsere neuesten Forschungsergebnisse zur Reise der Labrador-Inuit in Europa vorbereiten.
Zippora Nochasak reiste im Frühjahr 2012 nach Deutschland und besuchte gemeinsam mit uns die Stätten der tragischen Reise von 1880. Auf dem Alten Friedhof in Darmstadt suchten wir den Abschnitt auf, in dem das Mädchen Noggasak einst bestattet worden war. Wohl erstmals nach über 130 Jahren wurde hier, in einer informellen Zeremonie mit einem Gebet in Inuktitut, des verstorbenen Mädchens gedacht.
Literatur: Hilke Thode-Arora, “Das Eskimo-Tagebuch von 1880. Eine Völkerschau aus der Sicht eines Teilnehmers,” Kea 2, S. 87-115 ; Hartmut Lutz (Hg.): Abraham Ulrikab im Zoo – Tagebuch eines Inuk 1880/81, von der Linden, Wesel 2007; The Diary of Abraham Ulrikab. Text and Context, University of Ottawa Press 2005
posted by Mechtild Opel am 26. Juni 2012