reblogged vom November 2012
Die kläglichen Überbleibsel einer Hütte auf der entlegenen arktischen Insel Beechey Island tragen einen stolzen Namen: Northumberland House.
Seit Anfang des 17. Jahrhundert stand dieser Name für das Londoner Haus der Familie Percy, Earls von Northumberland, bis es 1874 abgerissen wurde. In der danach in dieser Gegend neu entstandenen Northumberland Avenue war das Victoria Hotel eines der größten Gebäude; heute trägt es den Namen Northumberland House und dient der renommierten London School of Economics als Studentenwohnheim. In den Sommerferien wird es als Touristenhotel genutzt. Dieses Northumberland House hat eine eigene Facebook-Seite mit 85 Fans. Es liegt im Herzen Londons, der Trafalgar Square ist nur 3 Minuten entfernt, und auch der Waterloo Place ist in fußläufiger Entfernung – hier steht das Denkmal für Sir John Franklin, der auf der Suche nach der Nordwestpassage in der Arktis verschollen ist.
Nachdem John Franklin 1845 mit seinen Schiffen Erebus und Terror von England in die Arktis aufgebrochen war, verbrachte er den ersten Winter in einer geschützten Bucht bei Beechey Island.
Diese felsige Insel liegt hoch im Norden, im arktischen Archipel des heutigen Kanada – jenseits des 74. Breitengrades, westlich vom Lancaster Sound am Wellington-Kanal vor Devon Island. Von hier aus begann Franklin im Sommer 1846 seine letzte Reise, von der er nie mehr wiederkehren sollte.
Bei einer Suchexpedition wurden sechs Jahre darauf, 1851, auf Beechey Island die Gräber von John Torrington, William Braine und John Hartnell gefunden: drei Tote von Franklins unglücklicher Expedition. Und noch drei Jahre später, 1854, trafen die Männer von der im Eis eingefrorenen „HMS Investigator“ nach einem Fußmarsch über das arktische Eis auf Beechey Island ein. Hier verbrachten sie den Sommer, bevor sie schließlich im Herbst per Schiff nach Europa zurückkehren konnten. Unter ihnen befand sich Johann August Miertsching, der die Expedition als Dolmetscher für Inuktitut begleitet hatte. Am 4. Mai 1854 schrieb Miertsching in sein Tagebuch:
… Auch sind hier drei Gräber, jede mit einer schwarz angestrichenen eichenen Pfoste, auf welchen folgende Schrift ausgeschnitten ist:
I. „Sacred to the memory of W. Braine, R.M., H.M.S. ‚Erebus‘. Died April 3rd 1846, aged 32 years.“ „Choose ye this day whom you will serve“
II. „Sacred to the memory of Jno. Hartwell, A.B. H.M.S ‚Erebus‘ aged 23 years. – Thus saith the lord of hosts, consider your ways.“
III. „Sacred to the memory of Jno. Torrington, who departed this life Jan 1st, A.D.1846, on board Her Majesty’s Ship ‚Terror‘ aged 20“.
Und ausgerechnet hier, auf dieser weit abgelegenen, einsamen Island entstand nun ein weiteres „Northumberland House“ – jedoch kein prachtvoller Steinbau, sondern ein einfaches Bretterhaus.
In seinem Tagebuch schrieb Johann August Miertsching im Juni 1854: … die Zimmerleute sind in dieser Zeit eifrig beschäftigt auf Beechey Insel ein hölzernes Haus zu bauen, welches als eine bequeme Wohnung für 60 Mann sein soll und mit Proviant und andern nöthigen Dingen angefüllt werden wird, im Falle Franklin oder Collinson sich hierher verirren sollte. –
Doch schon kurze Zeit darauf, am 20. Juli, bekam das Haus zunächst einen anderen Bewohner: Miertsching schreibt, dass der Kommandeur der Rettungsexpedition, Kapitän Sir Edward Belcher, vom Haus Besitz nahm. „Bei der Einweihung dieses Hauses wurde dasselbe von Sir E. „Northumberland House“ genannt. Die mitgekommene Mannschaft schickte er wieder zurück auf seine Schiffe, nur 6 Mann behielt er, welche seine Leibgarde oder Wache sind, und mit ihm in dem Hause wohnen“, kann man bei Miertsching lesen.
Man kann sich den Kopf darüber zerbrechen, ob diese Namensgebung für das Holzhaus von einem seltsamen Humor Sir Edward Belchers zeugt; oder wollte er damit eher an seine gehobene Position erinnern und Respekt und Unterordnung einfordern? Oder vielleicht einfach nur einen eher ungemütlichen Platz mit einem vertrauten Namen benennen und dadurch etwas „wohnlicher“ machen?
Vom Northumberland House auf Beechey Island ist heute nicht mehr viel übrig. Nur wenige der Bretter und Balken befinden sich noch an ihrer ursprünglichen Position; vor den Resten eines Kohlehaufens steht eine halbhohe Trockenmauer aus Stein, deren Funktion heute nicht mehr erkennbar ist.
Siehe auch: Ein Sorbe in der Arktis
Nachtrag vom August 2022: Wir freuen uns sehr, dass unser Buch „Weil ich ein Inuk bin. Johann August Miertsching – ein Lebensbild“ im Sommer 2022 im Berliner Lukas Verlag erschienen ist.
For an English version, see here.