Graphic Novel von Kristina Gehrmann
Vor einer Woche fand eines von Kristina Gehrmanns neuen Büchern, “ The Jungle“ (deutsch“ Der Dschungel) nach Upton Sinclairs berühmten Roman, in einem Artikel der NEW York Times hohe Anerkennung – Grund genug für uns, unsere Besprechung von ihrem Erfolgsbuch über das Schicksal der Franklin-Expedition mit den Schiffen Erebus und Terror noch einmal zu „rebloggen“.
Auf die Idee, eine Graphic Novel zu lesen (sagt man bei Graphic Novels eigentlich auch „lesen“?), und dann noch drei Bände, erschienen im Abstand von insgesamt 12 Monaten, wäre ich wohl nie gekommen – wenn es nicht DIESES Thema gewesen wäre!
Das Schicksal der gescheiterten Franklin-Expedition ist auch heute noch ein ungelöstes Rätsel, das für viele eine eigenartige Faszination erzeugt. Nur wenige Anhaltspunkte und Fundstücke liegen den Historikern vor, spärliche „Puzzleteile“, die sich auch beim besten Willen noch immer nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild fügen. Sie werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben. Viele Theorien, Spekulationen, Phantasien haben versucht, die Lücken aufzufüllen.
Nun liegt mit „Verschollen“ bereits der dritte Band von Kristina Gehrmanns Trilogie „Im Eisland“ auf dem Tisch. Ich konnte es kaum erwarten, ihn zu lesen: wie wird sie hier mit den vielen offenen Fragen umgehen?
Band I beginnt mit einem Prolog, in dem Inuit ihre Erinnerungen an die fremden Reisenden schildern, oral history, damals, im Jahre 1869, aufgezeichnet vom Arktisforscher Hall. Die von den Inuit über mehrere Generationen bis in die Gegenwart weitergegeben Überlieferungen sind leider mehr als hundert Jahre lang nicht ernst genug genommen worden; wäre sonst vielleicht die Erforschung des Expeditionsverlaufes erfolgreicher gewesen?
Kapitel 1 des ersten Bandes führt uns ins Jahr 1845. Wir erleben den hoffnungsvollen Aufbruch der Expedition, die endlich die lang gesuchte Nordwestpassage – über die Arktis nach Asien – finden soll. Doch schon bald bremst der arktische Winter die Weiterfahrt… Den Verlauf der Expedition und die Geschehnisse will ich hier nicht weiter vorwegnehmen, lest selber!
Sehr einfallsreich hat die Autorin vermocht, aus teilweise nur dürftig vorhandenen Informationen, wie etwa den Mannschaftslisten, lebendige Charaktere zu schaffen. Vielleicht war es bei den Offizieren der Expedition etwas leichter – immerhin existieren Fotos/Daguerreotypien, manchmal andere Porträts und hier und da auch biografische Informationen, aus denen man wenigstens Hinweise für die bildliche Darstellung und für die Charakterzüge gewinnen kann. Wo die Protagonisten nur einfache Seemänner waren, war die Autorin hingegen völlig auf ihre eigene Vorstellungskraft angewiesen. In beiden Fällen sind die Ergebnisse bewundernswert.
Kristina Gehrmanns lebendige Bilder von den Geschehnissen des ersten Winters im Eis, vom Leben an Bord, mit Zeitvertreib, einigen Zwischenfällen, ernsten Konflikten – und auch dem ersten Toten – erzeugen Spannung und Mitgefühl; ich bekam Lust auf die Fortsetzung, musste aber noch einige Monate warten.
Im zweiten Band „Gefangen“ sind die Seefahrer mit der gnadenlosen Realität des arktischen Nordens konfrontiert. Die Eissituation durchkreuzt ihre Pläne und Vorhaben, Hunger und Kälte fordern ihren Tribut, die Situation wird immer ernster.
Es ist erstaunlich, wie hier die Geschehnisse mehrerer Jahre auf zwei verschiedenen Schiffen in kürzeren Szenen verdichtet werden. Einige Zeitsprünge sind dabei unumgänglich. Um die Vielzahl der agierenden Personen zu überschauen und zu unterscheiden, hilft in Band II und III eine Personentafel (jeweils am Beginn der Buches).
Kristina Gehrmanns Zeichenkunst macht nicht nur Atmosphäre an Bord der Expeditionsschiffe des 19. Jahrhunderts nach-erlebbar, sondern auch die menschlichen Beziehungen. Wie schon in den beiden ersten Teilen stellt sich die Autorin auch im Band 3 „Verschollen“ in bemerkenswerter Unerschrockenheit solchen Problemen, die in den meisten anderen Darstellungen der Franklin-Expedition gar nicht erst zur Sprache kommen. Die Vielzahl von Gefühlen, Beziehungen und Konflikten zwischen Menschen in einer Notgemeinschaft werden teilweise auch drastisch dargestellt – ob es um Depressionen, Missbrauch von Medikamenten, sexuelle Beziehungen unter Seeleuten oder schließlich um Kannibalismus geht – doch immer sind die Geschichten anrührend und nachvollziehbar, die Menschen zwischen Verzweiflung und Hoffnung irgendwie menschlich – wenn auch im ganzen Spektrum menschlicher Lebensäußerungen.
Kristina Gehrmann gelingt zudem in allen drei Bänden die Gratwanderung zwischen einer spannungsreichen Geschichte und historischer Genauigkeit, soweit die wenigen bekannten Fakten eine solche erlauben. Keine der fundierten historischen Tatsachen, der neuen Funde und Erkenntnisse wird vernachlässigt. Mit einem Kunstgriff – einer Debatte, die Beteiligte an Bord der Schiffe führen – diskutiert sie sogar neueste wissenschaftliche Korrekturen einer vormaligem Theorie zur Bleivergiftung bei den Seeleuten; und auch der Fund des Schiffswracks HMS Erebus im arktischen Ozean von 2014 bereichert den Ausgang des Buches.
„Im Eisland“ ist somit – neben aller Fiktion und Fantasie, aller spannenden Erzählung und lebendigen Zeichenkunst – gleichzeitig noch ein Sachbuch, das die derzeit verfügbaren historischen und geografischen Informationen zur Franklin-Expedition bildhaft, aber seriös zusammenfasst und sogar Ereignisse im Umfeld, etwa Episoden aus den Suchexpeditionen damals wie heute, mit einbringt. Sehr zu empfehlen!
Dieser Beitrag wurde erstmals im März 2016 veröffentlicht.